Komfortzone


Nun sind wir seit knapp 2 Wochen unterwegs und sind mit der PINCOYA über wenige Stopps bis nach Danzig gekommen. Hier liegen wir gerade und haben heute überlegt, dass wir einen Tag dran hängen könnten, weil die Stadt für uns soviel Wichtiges und Interessantes zu bieten hat und wir hier einfach noch mehr Zeit verbringen wollen.

Wie geht es uns mit unseren Super-Segel-Urlaub heute?

Wir stellen fest, dass das Segeln routiniert funktioniert und wir die Törns und insbesondere unsere Nachttouren entspannt hinter uns bringen. Nicht immer ist der Schlaf so ausgeprägt wie gewünscht, aber das liegt an uns und der fehlenden Eingewöhnung, nicht an kritischen Wetter- oder Segelsituationen, die uns Sorgen machen. Also alles in allem ist das wirklich Entspannung, wie wir es uns natürlich erhofft hatten, und kein Stress oder eine Herausforderung.

Nein, das, was mich bisher am meisten beschäftigt, ist die Tatsache, dass wir nun tatsächlich erstmals nicht nur einfach “Urlaub” machen, sondern auf unseren Stopps auch wirklich etwas mehr von der Lebenssituation und der Geschichte der Orte und Länder, die wir besuchen, erfahren und erleben. Und das wird mir, seit wir die polnische Küste absegeln und den einen oder anderen Stopp einlegen, nun erst richtig bewusst.

Unser aktueller Standort ist Danzig. Wir liegen mit unserer PINCOYA mitten im Stadtzentrum vor dem “Krantor“. Das für sich allein ist schon “der Hammer”! 

Aber das eigentliche, was mir hier klar wird, ist,  dass wir hier wirklich Geschichte aus meiner Kindheit sehen und erleben, die auf die aktuelle Gegenwart wirkt.

Wir haben gerade einen 4-stündigen Besuch des “Europäisches Zentum der Solidarnosc” (ECS) am Tor 2 der ehemaligen Lenin-Werft, in der die Bewegung “Solidarnosz” mit Lech Walesa entstanden ist, hinter uns. Und wir sind überfrachtet mit Eindrücken, Informationen und dem Wissen, dass so viel von Menschen, ihrem Mut, ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit und ihrem Verständnis, auf friedvollen Weg Veränderungen zu erreichen, abhängt. 

Zum einen spüre ich meine persönliche Betroffenheit und das Mitgefühl mit den leidgeplagten Polen in dieser Zeit. Auf der anderen Seite macht mich die Geschichte aber auch hoffnungsfroh und unglaublich stolz, dass die Menschen sich eben nicht durch Regime, Politiker oder Machtinstrumente dauerhaft unterdrücken lassen. Und dass es friedliche Wege gibt, einem derartigen Irrsinn ein Ende zu bereiten. Dazu gehören dann auch herausragende Persönlichkeiten wie z.B. Papst Johannes Paul II, der mit dem Wissen um die Macht der Worte den richtigen Weg gefunden hat, den Menschen Hoffnung zu geben, aber keinen Zusammenbruch einer Gesellschaft oder eines Landes zu riskieren.

Letztlich – und das ist eben wichtig bei der ganzen Geschichte – ist es dem Einsatz und dem Mut jedes Einzelnen zu verdanken, dass er aufgestanden ist, sich Demonstrationen angeschlossen hat, mitgesungen hat und – auch auf die Gefahr einer Verhaftung oder eines Beschusses durch Militär oder Polizei – seine Gesinnung zum Ausdruck gebracht hat. Das waren Menschen wie Du und ich, sie sind für ein neues Leben und ihre Zukunft auf die Straße gegangen und haben ihr Leben dabei riskiert. Dabei ging es um fundamentale Werte, nicht nur um eine Lohnerhöhung …

Tja… und dann blicke ich auf mich und mein Leben in Deutschland und denke: das ist echt Komfortzone, oder? Die Tatsache, dass wir streiken dürfen, dass wir demonstrieren dürfen, dass wir frei wählen dürfen, und die Wahlen auch echte Wahlen sind, dass Recht Recht ist und unabhängig von der Politik gesprochen wird, ist ein Gut! Und das ist absolut nicht selbstverständlich, sondern eher heute noch die Ausnahme! Wie deutlich wird dies, wenn wir in die jüngere Geschichte unserer Nachbarländer schauen. Polen ist hier ein sehr gutes Beispiel. 

Vorletztes Jahr waren wir in Estland auf Saaremaa in einer Ausstellung auf der Ahrensburg, die uns schon auf ähnlich ergreifende Weise deutlich gemacht hat, dass ein Volk sehr sehr lange kämpfen muss, bis es souverän und eigenständig sein darf und kann (hier uns Blog aus dem Jahr). 

Tja, und wenn wir mal schauen, wie lange in der Schweiz schon das allgemeine Wahlrecht (also insbesondere das “Frauenstimmrecht“… ) gilt, haben wir ein anderes frappierendes Beispiel von Rechtslagen, die vollkommen gegen mein Verständnis laufen. Die Gleichberechtigung ist für mich eine gesetzte Selbstverständlichkeit.

Was nehme ich also bisher von der Reise mit? 

Ich beginne, mich von dem allgemeinen Altragstrott zu lösen und einmal mit etwas Abstand auf mein Leben und meine “Welt” drumherum zu blicken. Das macht mir bewusst, wie gut es mir bzw. uns geht und wie glücklich wir uns schätzen können! 

Und ich bin unendlich dankbar, dass wir in einem Land leben, das ganz viel aus seiner eigenen Geschichte gelernt hat und das dieses Wissen darum hoffentlich nicht vergisst und sich der Werte, die das Land heute ausmachen, bewusst bleibt.