Den letzten Tag mit Mietwagen haben wir uns für eine Tour entlang des Küstenabschnitts der Normandie reserviert, an dem am 6. Juni 1944 die Befreiung Europas von der Terrorherrschaft Nazi-Deutschlands begann. Obwohl unsere Generation ja nun rein gar nichts mit den deutschen Gräuel der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs zu tun hat, ist dieser Gang in die Geschichte für uns doch beklemmend. Immerhin waren es Deutsche, die dieses Leid über Abermillionen Menschen gebracht haben und es waren Deutsche, die dem völkischen Wahnsinn eines Demagogen und Hetzers so willig gefolgt sind.
Da es an der D-Day-Küste so gut wie keine Häfen gibt, die wir anlaufen könnten, ist es gut, dass wir für diese Tour noch den Mietwagen haben. Außerdem liegen die einzelnen Gedenkstätten, die wir besuchen wollen, recht weit auseinander. Denn die Landungen der Alliierten fanden an dem gesamten Küstenabschnitt zwischen Cabourg nordöstlich von Caen bis fast hinauf nach Saint-Vaast-la-Hougue im Westen statt. Obwohl »D-Day« eigentlich nichts anderes heißt als »der Tag X«, ist diese Invasion wohl für immer mit dem Wort »D-Day« verknüpft.
Zunächst fahren wir über die riesige Brücke »Pont du Normandie«, die über die Seine-Mündung führt. Wir beginnen ganz im Westen am Mahnmal am Omaha-Beach. Dort haben es damals die Amerikaner geschafft zu landen, obwohl diese Landung unglaublich verlustreich war. Das Mahnmal selbst ist eher unspektakulär. Vielleicht eine bewußte Zurückhaltung im Angesicht des völkischen Größenwahns von Nazi-Deutschland, dessen Niederlage hier in seine entscheidende Phase trat.
Am Omaha-Beach stehen Tafeln, die das Unfassbare begreiflich machen sollen. In fast jeder Stadt dieser Region findet sich ein Museum. Und die ganze Region ist geprägt von der unglaublichen Gewalt, die vor 75 Jahren hier ausbrach.
Unsere zweite Station ist der amerikanische Militärfriedhof. Mehr als 9000 Gräber von Menschen, die ihr Leben für die Freiheit verloren. Die Spuren des 75. Jahrestages der Landung der Alliierten sind noch allgegenwärtig.
Von der ersten Landungswelle hat praktisch niemand überlebt, von der zweiten nur wenige, erst die dritte Landungswelle war erfolgreich und konnte Fuß fassen. Es ist erschütternd, die Bilder von den Menschen zu sehen, die für die Freiheit und gegen die Nazigräuel in den sicheren Tod gingen. Es sind Menschen wie wir, mit Familien, Kindern und Enkelkindern, die hier für die Freiheit anderer in den Krieg zogen. Und das mit dem Wissen, dass die Chance, lebend zu entkommen, verschwindend gering bis aussichtslos war.
Da stellt sich einem fast zwangsläufig die Frage, wie man sich selbst verhalten hätte. Egal ob als Soldat, in der Résistance oder im Widerstand gegen das Naziregime im eigenen Land.
Auf diesem geschichtlichen Hintergrund ist das Wiedererstarken der Rechtspopulisten und des braunen völkischen Sumpfes vollkommen unfassbar. Nicht nur in Deutschland. Rein gar nichts scheinen die Menschen aus ihrer jüngsten Geschichte gelernt zu haben. Die Generation des 2ten Weltkriegs gibt es inzwischen nicht mehr, die letzten Augenzeugen sterben gerade. Und eine neue Generation von Rechtspopulisten glorifiziert schon wieder rechtes Gedankengut.
Man fragt sich, ob es etwas bringen würden, diese Menschen an diese Orte der Geschichte zu bringen? Würde ein Besuch hier oder in einer KZ-Gedenkstätte in diesen Köpfen irgendetwas verändern? Führende AfD-Politiker sprechen heute schon offen von russisch und polnisch besetzten Gebieten im Osten und ernten nur allzu zögerliche Kritik dafür. Doch die Chancen auf ein Nachdenken über rechten Terror und Rassismus stehen in Köpfen, die von braunem Gedankengut ausgehöhlt sind, wohl eher schlecht. Erschreckend bleibt die Erkenntnis zurück, wie willfährig allerorten den plumpen Parolen von Populisten gefolgt wird. Beispiele dafür finden sich zurzeit in ganz Europa und wenn man mal versucht, ein europäisches Land zu benennen, in dem das gerade nicht so ist, dann wird einem erst die ganze Tragweite dieser Gefahr richtig bewußt. Und da hilft es auch nicht, seine Suche auf die Welt auszudehnen, denn überall werden sicher geglaubte Errungenschaften der Freiheit und Menschlichkeit mit den Füßen weggetreten.
Zwei Fragen bleiben da ohne Antwort. Die erste ist: Wie konnte eine relativ kleine Naziführungsriege ein ganzes Volk hinter sich bringen? Klar gab es Widerstand, aber warum so wenig und wieso ist die breite deutsche Masse dem braunen Wahnsinn willig und kritiklos als brutaler Erfüllungsgehilfe hinterher gelaufen? Terror und Angst haben sicher viele eingeschüchtert, aber die breite Masse hat aktiv mitgebrüllt und sich als allzu willig mit unglaublicher Schuld beladen. Und die braune Gesinnung des herrischen Übermenschen gab es nicht nur in Deutschland, in den besetzten Gebieten haben sich erschreckend viele sehr schnell auf die Seite der Nazis geschlagen. Das war ein brauner Flächenbrand, den wir lange für Geschichte gehalten haben. Doch heute müssen wir lernen, dass dieses braune Gedankengut gar keine Geschichte ist, sondern jederzeit wieder aufflammen und ausbrechen kann.
Die Menschheit hat ganz offensichtlich nichts aus ihrer Geschichte gelernt und die jüngsten politischen Entwicklungen geben konkreten Anlass zu der Befürchtung, dass auch die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte noch lange nicht zugeschlagen sind. Lange haben wir geglaubt, dass sich wenigstens diese Geschichte nicht wiederholen kann, doch das war wohl nur eine Hoffnung.
Überall auf der Wellt werden braunes Gedankengut und Rassismus wieder salonfähig. Dies in der Kombination mit Religion und dem damit einhergehenden religiösen Wahn, ergibt eine Mischung, die nur Angst machen kann. Und genau an dieser Stelle stellt sich einem ganz persönlich die zweite Frage: “Wie verhältst du Dich?” Und es stellt sich heute eben nicht mehr die Frage: “Wie hättest Du Dich verhalten?” Denn die Geschichte droht wiederzukehren und genau jetzt ist der Zeitpunkt, um dem die Stirn zu bieten und den europäischen Gedanken genau dafür zu verteidigen. Unsere Hoffnung ist, dass die breite Masse vielleicht doch etwas aus der Geschichte lernen kann, um den völkisch-braunen Rechtspopulisten entgegen zu wirken, aber wenn die Massen erst einmal wieder rechte Parolen nachbrüllen, ist es zu spät.
Vor Arromanche haben die Alliierten einen provisorischen Hafen angelegt. Etwas weiter im Westen gab es noch einen zweiten, der aber nicht wirklich lange den Naturgewalten Stand hielt. Wenn man in Arromanche an der Küste entlang blickt, bekommt man eine kleine Vorstellung von dem Ausmaß dieser Landung und der Logistik dahinter.
An dem Mahnmal am Omaha Beach, auf dem amerikanischen Militärfriedhof, in den Gedenkstätten und Museen und dem 360° Kino von Arromanches sehen wir viele alte Menschen, Angehörige der Generation, die hier gekämpft hat und gestorben ist. Aber wir sehen auch viele jüngere Menschen und Familien und nur manchmal haben wir das Gefühl, dass das angekommen ist, was diese Gedenkstätten sagen sollen. Wir hoffen, dass sich Geschichte nicht zwangsweise wiederholen muss und die Menschheit doch auch aus Geschichte lernen kann. Doch dies ist heute beileibe keine Gewissheit mehr.
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49° 29′ 18,2″ N, 000° 05′ 36,0″ E