Es ist mein Glück, dass ich gerade mal wieder »Knie« habe. Es tut schweineweh und so bleibe ich im Auto, während Astrid noch schnell ein paar Besorgungen macht. Sie verlässt mich mit den Worten: “Bleib schön hier, ich bin gleich wieder da!” Ich bin versucht zu sagen: “Ja, Mami.” Und was meint die Capitana? Wie soll ich hier überhaupt wegkommen, ich brauche schon Minuten, allein um mich überhaupt aus Henry heraus zu schwingen. Also nehme ich mir mein Handy, um »Crossy Road« zu spielen. Aber der Akku ist bei 2%, so kommt man damit nicht weit. Irgendwer scheint vergessen zu haben, mein Handy wieder aufzuladen. Gelangweilt schaue ich ins Handschuhfach und durchwühle die Ablage der Mittelkonsole. Dort liegen immer noch dieselben Sachen, wie schon vor einem Jahr. Nur jetzt etwas staubiger. Die Fensterheber gehen auch noch, für einen Test der Nebelscheinwerfer bräuchte ich den Schlüssel und außerdem müsste ich dann ja auch aussteigen, denn es ist hell und die Sonne scheint. Also drehe im am Radio herum. Gerade noch rechtzeitig, denn Sekunden später höre ich die Nachricht, dass sich in Niedersachsen nun auch alle »alten Säcke:innen« über 60 mit AstraZeneca impfen lassen können. Aber über dem Problem der Genderneutralität des »alten Sacks«, die wenigstens für mich bei seiner offensichtlich genderspezifischen Herkunft ein Problem darstellt, vergesse ich die Worte der sicherlich noch nicht impfberechtigten Radiosprecherin.
Erst zuhause erinnere ich mich dann wieder an die Impfstofffreigabe (*) und die erst 2 Tage alten Worte unserer niedersächsischen Gesundheitsministerin, dass zurzeit eh nicht ein einziges Tröpfchen AstraZeneca übrig ist und die Gruppe 3 der über 60-Jährigen:innen (**) noch warten muss. Trotzdem google ich mal und siehe da, man scheint nun doch noch etwas AstraZeneca in Niedersachsen gefunden zu haben. Gleich im Text der offiziellen Mittteilung findet sich auch ein Link. Ich klicke mal drauf, das kann ja nicht schaden. Anmeldung oder wenigstens Warteliste, was soll’s, eine große Chance rechne ich mir nicht aus, denn ich erinnere mich an die Schlangen vor den Impfzentren, als andere Bundesländer AstraZeneca freigegeben haben. Die notwendigen Eingaben sind schnell gemacht und das System bekommt anhand meines Geburtsdatums auch sofort heraus, dass ich über 60 bin. Und dann kommt auch schon der Kalender zur Terminvereinbarung und vor mir auf dem Bildschirm leuchten unzählige grüne Termine. Gleich schon morgen oder am Freitag. Ich bin völlig perplex und rufe nach der Capitana um Hilfe. Schnelle Entscheidungen sind gefragt. Gleich morgen? Ja! Click! Zack noch schnell die Zeit und ab die Post. – Aber nix geht. Hä? Zurück und noch mal. Click! Click! Geht aber nicht, obwohl alle Termine immer noch grün sind. Dann merke ich, dass man scrollen muss, um auch den zweiten Termin gleich mit zu vereinbaren. Ah, klar, da hätte ich auch selbst drauf kommen können, aber jetzt ist es zu spät, es geht nix mehr. Refresh und … ok, noch mal von vorn. Nun spiele ich all meine Routine aus dem ersten Durchgang aus, mache alle Eingaben noch einmal, legitimiere mich wie ein Profi gleich noch ein zweites Mal und … erwarte ein »Bitte warten sie 24h, denn nun geht nichts mehr, denn sie haben ja schon einmal!” Aber nix, der Kalender kommt wieder, es gibt aber in dieser Woche keine 25 Termine mehr, sondern nur noch genau einen. Zack geklickt, zack gescrollt und zack noch einmal geklickt. Und nun geht die Post wirklich ab, ich habe meinen ersten Termin zum Piks und die Bestätigung kommt auch prompt. Alles perfekt. Einzig fehlt mir jetzt ein kleines, digitales Feuerwerk oder dieser hübsche bunte Schnipselregen. Sonst war das echt klasse, alles gut, und das Feuerwerk und der Schnipselregen können ja auch immer noch in Abhängigkeit des Impfstoffes bei der nächsten Pandemie eingebaut werden.
Pünktlich um 10:30 trete ich durch die Tür des Impfzentrums. So voll wie es schon auf dem Parkplatz ist, erwarte ich Schlangen und Menschenmassen. Aber nichts! Die Messehalle ist riesig, es gibt wenigstens 5 Eingangsspuren, alles ist ausgeschildert und läuft wie am Schnürchen. Ich bin, das muss ich wirklich sagen, schon recht beeindruckt von der Organisation. Alles ist klar und übersichtlich. Alles ist gut organisiert, keine Schlangen und alles geht ruckzuck. Exakt 2 Formulare, 4 Stationen und 13 Minuten später komme ich auch schon im Epizentrum des Impfgeschehens an. Zwei verschiedene Laufzettelnummern haben mich bisher zielsicher von einem Ort zum anderen geführt und nun bin ich am Checkpoint 7 und dahinter wartet auf mich auch schon nach nur 13 Minuten »meine Spritze«. Randvoll mit frischem, köstlichen AstraZeneca.
An Checkpoint 7 bekomme ich die Nummer 53, die aber nur als Randnotiz auf dem Anamnese-Bogen vermerkt wird und wohl die laufende Impfnummer des Tages dieser Station ist. Sonst nichts. Man zeigt auf einen der Stühle im Wartebereich und ganz unbemerkt habe ich das Organisationsvakuum dieses Impfzentrums betreten. Mit mir sitzen etwa 9 bis 10 Personen in dem Wartebereich vor der Tür mit der magischen Aufschrift »Arzt«. Von Bauzäunen getrennt reiht sich ein Wartebereich an den nächsten. Natürlich bin ich zu schusselig, um mir zu merken, wann und vor allem als Wievielter ich das Organisationsvakuum betreten habe. Als erstes schreibe ich stolz einen Chat an Astrid, und erzähle, wie toll ich bisher vorangekommen bin. Das machen fast alle so, denn alle scheinen echt beeindruckt von der tollen Organisation zu sein.
Aber genau das wird uns nun zum Verhängnis. Die Unaufmerksamkeit beim Betreten des Organisationsvakuums und dann auch noch unsere Ablenkung durch die unseligen Chats führen dazu, dass nach 5 Minuten niemand mehr weiß, wer vor oder nach einem angekommen ist. Immer wieder kreuzen sich unsichere und verwirrte Blicke, die versuchen, irgendeinen Hinweis auf das nun folgende Prozedere zu finden. Da öffnet sich im benachbarten Wartebereich die Arzttür und ein älterer, dünner Mann sagt etwas in den Wartebereich hinein. Was, kann man nicht verstehen, aber drei der Wartenden springen auf, aber zwei bleiben gleich wieder in ihrer Bewegung stecken, und nur einer zieht durch und geht zu dem Arzt. Der Dünne muss ja Arzt sein, denn das steht ja schließlich an seiner Tür.
Hinter mir im Wartebereich dasselbe Spiel. Aus dem Augenwinkel beobachte ich einen Zweikampf und meine die Worte “Nein, jetzt bin ich dran!” zu hören. Dann öffnet sich auch in meinem Wartebereich die Tür und eine zierliche Ärztin haucht etwas in den Raum, dessen Schallwellen wohl schon bei absoluter Stille nicht den Mindestabstand von 1,5 m überbrücken können und so gehen ihre Worte schon nach etwa 50 cm in einem unhörbaren Nichts unter. Fast gleichzeitig springen 4 meiner Mitwartenden auf und die Dame in Pink gewinnt. Irgendwie gedemütigt setzen sich die anderen 3 wieder hin. Meine Augen suchen fieberhaft irgendeinen Hinweis auf die Organisation in diesem Wartebereichen. Aber nichts. Habe ich vergessen, am Eingang eine Nummer zu ziehen? Aber nein! Erstens hätten die Damen am Checkpoint es mit gesagt und zweitens sehe ich keinen dieser roten Nummernautomaten. So einen wie an der Fleischertheke bei Real. Meine Mitwartenden sehen ebenso ratlos aus. Ich versuche mich zu erinnern, wer war vor und wer war hinter mir. Der mit Brille vor mir, die junge Asiatin vielleicht hinter mir, aber was ist mit dem in der grauen Jacke und der Dame mit den grauen Haaren. Da geht schon wieder die Tür von dem dünnen Arzt auf. Wieder dasselbe Bild, diesmal stürmen zwei zielsicher los, aber nur einer streckt seine Unterlagen kurz vor der Ziellinie geschickt nach vorn. Wie ein Sprinter, der im letzten Moment noch seinen Oberkörper nach vorn wirft und damit im Photofinish gewinnt. Der Dünne greift die Unterlagen. Gewonnen!
Im Wartebereich hinter mir wird’s laut.
”Nun bleiben sie doch mal auf ihrem Stuhl sitzen und wechseln nicht immer hin und her! Da kann sich ja keine Sau mehr merken, wer dran ist.”
“Aber wenn ich dran bin, dann kann ich auch aufrücken.” Keift es zurück.
”Sind sie ja noch gar nicht, aber ich weiß jetzt nicht mehr …!”
Ein dicker, gutmütiger Ersthelfer von den Johannitern versucht, die Gemüter zu beruhigen. Alle setzen sich lückenfrei nach vorn. Das Ergebnis ist klar, nun weiß niemand mehr, wer als nächster dran ist. Der nette Ersthelfer geht durch die Servicetür, wahrscheinlich sucht er nun irgendein Beruhigungsmittel und für den schlimmsten Fall vielleicht auch etwas Verbandzeug.
Dann da, der Dünne, schon wieder geht diese Tür auf. Inzwischen steht es 4:1 für den Dünnen und 2:1 für die Tür hinter mir. Nur bei uns ist Sendepause. Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Ähnlich wie beim Memory-Spielen mit unserer Enkelin. Da verliere ich auch immer haushoch. Das bedeutet für mich heute nichts Gutes. Vielleicht ist das alles heute hier ja auch ein versteckter Demenztest. Wer übrig bleibt, hat seine Diagnose weg.
6:2 für den Dünnen und hinter mir tobt die Reise nach Jerusalem mit einem klaren 5:2. Die Stimmlose lässt sich echt Zeit, aber immerhin kam in den letzten 15 Minuten niemand mehr dazu. Nur die üblichen Verdächtigen springen immer wieder wie Zebulon von ihren Stühlen auf. „Turnikuti, Turnikuta, die Stimmlose ist wieder da!” Es wäre ein Supergaudi, das hier mit einem Zeitraffer aufzunehmen. Ich versuche nun ein ums andere Mal, den magischen Lockruf von ihren Lippen abzulesen. Ist es die Zahl oder der Nachname? Aber bei 9:4 vorn und 7:4 hinten bin ich mir sicher, es ist nur “Der Nächste bitte!” Wie könnte es auch anders sein, erstens können Ärzte diesen Satz auch gar nicht unterdrücken und wer hätte im Organisationsvakuum auch wirklich etwas anderes erwartet?
Nach 45 Minuten stiftet eine ganze Horde von Neuankömmlingen die totale Verwirrung. Die Asiatin und ich sind die beiden letzten aus dem ersten Schwung und wir haben uns darauf geeinigt, dass in dieser Situation »Ladies first« mehr als angebracht ist. Den Neuen erkläre ich den Demenztest bzw. das Impfmemory. Allerdings erst, nachdem ich mir sicher bin, dass sie sich auch nichts gemerkt haben. Ich genieße den Anblick der erstaunten Gesichter, blanke Verwirrung und Unsicherheit, sie sind stumpf ins offene Messer der Nichtorganisation gelaufen. Auch Schadenfreude kann ein guter Zeitvertreib sein. Mein Nachbar bemerkt, dass es bis hier ja richtig gut lief, aber jede Käsetheke bei Rewe besser organisiert sei, als das Wartezimmer hier. Alle nicken. 18:9 vorn und 19:9 hinten. Der Dünne hat sich einen Kaffee geholt und ist durch den Boxenstopp leicht ins Hintertreffen gekommen. Gott sei Dank arbeitet meine Stimmlose wie eine Besessene ganz ohne Unterbrechung. Ich bin der Nächste!
Und dann … ah jetzt ja. Klar habe ich schon mein Sweatshirt ausgezogen, nach einer Stunde und 7 Minuten darf es nun auch mal schnell zu meinem Spritzchen kommen. Auf dem Schreibtisch der Stimmlosen liegen aber gar keine Spritzen! Ich bin verwirrt! Langsam, ganz langsam klärt sie mich erst über Covid-19 und dann über AstraZeneca auf. Das abschließende Sahnehäubchen der Aufklärung ist die Frage: “Wollen sie die hier noch nicht ganz anwesende Spritze in ihren linken Arm haben?”
Und ich antworte mit den Worten “Ja, so wahr ich hier sitze!”
“Dann bitte durch diese Tür!”
Meine Erwartung, auf einen Spritzenraum zu treffen, wird im Organisationsvakuum ein weiteres Mal bitter enttäuscht. Ich komme in eine Art Warteraumflur, der sich aus drei Arztzimmern füllt. Aber jetzt bin ich schlauer, sofort scanne ich alle Anwesenden. Zumindest tue ich so, denn es sind weit mehr als 20, was meine Kapazitäten im Personenmerken bei weitem überschreitet. Aber auch meine Leidensgenossen haben dazu gelernt. Eine beherzte Dame, wahrscheinlich die Chefsekretärin eines Logistikunternehmens, hat die Kontrolle übernommen. Sie hat eine Schlange geformt und achtet penibel auf das Einhalten der Reihenfolge. Widerspruch ist zwecklos, ich reihe mich wortlos und sogar gerne ein. Es ist schön zu sehen, wenn ein Profi am Werk ist. In dem Warteraumflur stellen sich allerdings neue Herausforderungen. Solange die Chefsekretärin noch nicht selbst an der Reihe ist, hat sie noch alles im Griff. Astra hier, Biontech dort, aber zack und dann mal schnell aufrücken. Ich füge mich gerne, so wird das was. Doch schon kurz nachdem sie weg ist, löst sich die schöne Ordnung auch schon wieder auf. Ein Arbeiter-Samariter-Bund-Hipster ruft hinter mir “Astra, mir nach”! Während die anderen noch verdutzt gucken, ergreife ich die Chance und reihe mich geschickt zwischen dem Arbeiter-Samariter-Bund-Hipster und seinem Assistenten mit den Spritzen ein. Geschafft! Nach 1:22 Minuten macht es piks und ich hab sie.
Mit der Impfkabine verlasse ich auch wieder das Organisationsvakuum. Kaum habe ich den Arztbereich hinter mir gelassen, umschwirren mich auch schon wieder die fröhlichen Helfer einer tollen Organisation wie fleißige Bienchen. Ich muss noch 15 Minuten warten, dies aber nur für den unwahrscheinlichen Fall eines plötzlichen Druckverlustes im Großhirn. Immer wieder kommt jemand von den Maltesern vorbei und guckt, ob es mir gut geht. Und dann kommt sogar auch noch eine freundlich lächelnde Malteser-Dame mit einer Schere, um mir das Bändchen von meinem Piksearm abzuschneiden. Wie schön kann doch so eine wohlorganisierte Welt sein. Geradezu erfrischend.
Nach 15 Minuten noch auschecken und am letzten Checkpoint die Papiere am Schalter mit dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens abgeben. Zielsicher steuere ich das »G« an und sage “G wie Grube”. Der Mann vom »G« lächelt mich an und sagt: “Das haben sie aber gut gemacht! Geschafft!”
Wenn der wüsste, wie recht er hat.
Virtuell klopfe ich mir auf die Schulter. Tja, mein Papa hätte gesagt: “Gekonnt, ist gekonnt!” Aber das ist eine andere Geschichte.
Astrid finde ich sofort auf dem Parkplatz. Henry steht mutterseelenallein dort, wo vor einer Stunde und 40 Minuten noch die Autos dicht an dicht standen. Aber vor Henry beginnt es sich schon wieder zu füllen und die frischen Impflinge rasen in freudiger Erwartung links und rechts an uns vorbei. Wenn die wüssten!
(*) Drei »fff«, meine persönliche Hommage an die deutsche Rechtschreibreform 🙂
(**) Und an dieser Blogstelle gelobe ich, nicht weiter »genderneutral« zu bloggen 🙏. Schon bei der Rechtschreibreform fehlte mir die Fantasie für die Majonäse und auch der Ketschup war mir wurscht.