Montag:
Über das Wochenende des ersten Mais ist unsere Entscheidung zurückzufahren genauso nebulös wie die Öffnungsmeldungen aus Frankreich, Spanien und Portugal. Frankreich hat zwar angekündigt, dass es Erleichterungen geben wird, aber was nun wann genau passiert, ist nicht eindeutig herauszubekommen. Die Stärke der Franzosen liegt eindeutig nicht im Design von übersichtlichen und aussagekräftigen Webseiten und schon gar nicht in dem Interesse, eine Information auch mal für nicht-französische Muttersprachler preiszugeben. Doch eins ist klar, über das Wochenende gelten weiterhin die nächtliche Ausgangssperre und auch die tagsüber. Beide verhindern, dass wir Frankreich überhaupt »transitmäßig« durchqueren können. In Spanien ist der Transit aber möglich, die Spanier rätseln nur um die Wiedereröffnungsmöglichkeiten ihrer Bars. Das ist verständlich und wichtig, aber für uns dann doch eher nachrangig. In jedem Fall können wir dort aber eine Übernachtung buchen, nicht überall, aber es gibt Hotels, die geöffnet haben.
Die Portugiesen sind ebenso klar wie problematisch, denn es wird ganz unmissverständlich erklärt, dass zwar die Grenze zu Spanien wieder geöffnet ist, aber eben »not for touristic reasons«. Das macht die Capitana ganz zapplig und über dem Schiffsjungen schwappen die Wogen der Zweifel und Bedenken zusammen. Aber wieso??? Sehen wir etwa aus wie Touristen? Da hilft auch der Vorschlag des Schiffsjungen nicht, dass wir uns einfach zwei Blaumänner kaufen und auf Henry den Schriftzug »PINCOYA-Service-Mobil« kleben. Also beschließen wir, notfalls den Joker eines »Schiffsverkauf« zu ziehen. Immerhin wird Henry wirklich eher wie ein Service-Mobil aussehen, wenn wir all die Kisten und Kartons in ihn hineingestopft haben, die sonst per Euro-Palette nach Portimão gereist wären. Das ist ein guter Plan und so sind wir guter Dinge und natürlich »on duty« und selbstverständlich ausschließlich »on official business reasons« unterwegs.
Am Montag fällt dann in Frankreich tatsächlich die Ausgangssperre tagsüber und damit auch unsere Entscheidung. Entscheidend für uns ist der Wegfall der Deklaration von Ausnahmegenehmigungen für eine Fahrt von mehr als 10 km in Frankreich tagsüber. Es ist wirklich etwas schwierig, und selbst das Auswärtige Amt und der ADAC verweisen nur auf die Seiten der französischen Regierung. Zurück bleibt immer ein Stück Unsicherheit, aber wenn man die Summe über all die europäischen Interpretationen der französischen Reglements bildet, dann könnte es klappen.
Also beschließen wir zu fahren. Aktuell gibt es hier zuhause für uns nichts mehr zu tun und die Aussicht auf ein Stück normales Leben ist auch sehr verlockend. In jedem Fall brauchen wir aber noch einen PCR-Test. Der wird von allen Staaten verlangt, in und durch die wir reisen wollen. Wir buchen einen Testtermin für Dienstag 16:00. Somit müssen wir die Grenze zu Portugal bis Freitag 16:00 hinter uns lassen, denn dann sind die 72 Stunden Gültigkeit um. Für Flugreisende ist diese 72-Stunden-Grenze ja kein Problem, denn der Test ist beim Boarding vorzulegen. Für Individualreisende sind die 72 Stunden aber schon ein Problem, denn die laufen ab dem Zeitpunkt, zu dem der Abstrich gemacht wird. D.h. bei uns ab ca. 16:00 am Dienstag. Das Ergebnis des Labortests wird aber nur innerhalb von 24 – 36h zugesichert. Im schlechtesten Fall bleiben uns von den 72 h also nur noch 36 h. Für ein Boarding sicher kein Problem, für eine fast 3.000 Kilometer lange Fahrt aber schon. Einer Fahrt, die zudem durch Ausgangssperren unterbrochen ist und auf der der letzte Grenzübergang, der einen gültigen PCR-Test erfordert, in ca. 2.300 Kilometern Entfernung liegt. Um sicher zu gehen, müssen wir so kalkulieren, dass wir die französische Grenze erst queren, wenn wir sicher das Ergebnis haben. Also um 6:00 am Donnerstag, wenn die nächtliche Ausgangssperre in Frankreich vorüber ist. D.h. aber auch, dass wir Mittwoch in Deutschland bis 22:00 bis kurz vor die französische Grenze fahren müssen, denn dann beginnt in Deutschland die nächtliche Ausgangssperre.
Also brauchen wir eine Unterkunft in Deutschland. Und da wir natürlich »on duty« und ausschließlich »on official business reasons« unterwegs sind, können wir die schwäbische Dame unserer Unterkunft in Neuenburg am Rhein auch überzeugen, dass wir rechtmäßig aufgenommen werden dürfen.
Dienstag:
Am Dienstag verabschieden wir uns bei Astrids Eltern. Danach laufen alle Vorbereitungen auf Hochtouren. Um Henry machen wir uns eigentlich keine Sorgen, er ist das zuverlässigste Auto der Welt. Vielleicht schlägt ihn noch Herbie, aber das nur knapp! Doch er hat inzwischen auch schon fast 300.000 km auf seinem Buckel, aber was soll’s, schließlich haben wir mit unserer Versicherung ja auch einen Europa-Schutzbrief, so dass wir ihn zur Not retten und reparieren lassen könnten. Im Februar wollte der TÜV wegen einer etwas angegammelten Motoraufhängung die Scheidung. Lächerlich! Da haben wir natürlich unser Veto eingelegt und so gehört er nun noch etwas mehr zur Familie als vorher.
Um 16:00 fahren wir zum Test. Irgendwie kratzt es plötzlich im Hals und mir ist auch total warm. Fieber? Ich kaue schnell noch eine Kaffeebohne, der Geschmack ist noch da, alles in Ordnung. Aber war da nicht eben doch so ein klitzekleines Stechen im Brustkorb? Wir gestehen uns erst hinterher, dass wir beide auf der ganzen Fahrt zum Test fieberhaft in uns hineingehorcht haben. Es ist erschreckend, wie die Psyche versucht, einem Streiche zu spielen. Selbst dann, wenn man es weiß, schafft sie es, einen unsicher zu machen. Das ist erstaunlich und hinterher schütteln wir über uns selbst die Köpfe.
Im Testzentrum ist fast nichts los, wir haben ja sicherheitshalber reserviert, aber vor uns ist nur ein Pärchen. Dann wir! Wir dachten, dass wir uns aussuchen können, wo sie das Stäbchen reinstecken, um dann wie mit einer Flaschenbürste herumzuschubbern. Einstimmig haben wir beschlossen, dass es unsere Nasen treffen soll, denn wir beide sind uns sicher, dass wir bei einem Killekille im Rachen für nichts garantieren können. Deswegen haben die Tester ja auch so ein Vollvisier aus Plexiglas auf, nur Arglose denken, dass das wegen der Viren ist. Während es in der Nachbarkabine ruhig bleibt, die Capitana scheint entweder ohnmächtig geworden zu sein oder das Stäbchen blockiert jetzt schon ihr Stimmbänder, fragt mein Folterknecht mich während des Fiebermessens: “Erst Nase oder erst Rachen!” Mein “Ich dachte, … ” kontert er sofort mit einem “Wir machen immer beides.” Zu irgendwelchen Widerworten kommt es nicht mehr, er zückt das Stäbchen und … was heißt hier eigentlich »Stäbchen«??? Das ist ein ausgewachsener Stab. Ein richtiger Knüppel, riesig wie eine Flaschenbürste! Was sage ich? Klobürste! Einer ausgewachsenen Barilla-Nudel würde es die Schamesröte in ihr Spaghetti-Gesicht treiben. Auf der ganzen Länge ein Spaghetti und oben Spirelli! Als ich noch “Mein Gott, bitte nicht!” denke, klappt er sein Visier runter.
Gefügig wie beim Zahnarzt mache ich den Mund auf. Kille kille kille… ich muss gleich… “Da haben wir es ja schon!” Ich muss an meinen Zahnarzt denken, er ist eigentlich ganz nett, aber wir konnten bisher noch keine Freunde werden. “Gucken sie mal, Schwester, er lächelt schon wieder…”. Immer, wenn mir der Schmerz und die Angst die Tränen in die Augen treiben, sagt er so was. Das steht einer Freundschaft dauerhaft im Wege. Dann die Nase. Tiefer! Ja, noch tiefer! Wie, da geht’s noch weiter? Gott, der muss kurz vor meinem Zwölffingerdarm sein. Kille kille, schubber schubber. Mir wird ganz … puuuuh … anders. Dann machst es Plopp. Jeder kennt dieses Geräusch, wenn man eine Weinflasche entkorkt. Oh mein Gott, wo war der denn? Er war rechts drin, aber in meine beiden Augen schießen die Tränen. Ich heule wie beim Zwiebelschneiden. Die Dame am Computer ist einfühlsamer als mein Folterknecht.
”Geht’s?”
“Ja, es sind nur Freundentränen! Darf ich noch mal?”
Da zückt er schon wieder das Stäbchen.
”Hey nein! HALT! Das war ein Scherz!”
Lernt man heute in der Schule eigentlich nicht mehr, was Ironie ist? Ich muss hier raus und stammele noch “Morgen eMail?”
“Ja!” lächelt die Computerdame: “Morgen eMail, gute Reise!”
Ich presse ein Danke heraus und sehe Astrid durch meine tränenverschwommenen Augen schon draußen stehen.
Noch nie war mir so klar wie heute, dass ich ein leidenschaftlicher Befürworter des europäischen Impfpasses bin. Vollständige Impfung mit Stempel und Siegel und nie wieder diese Flaschenbürste. Erst nach etwa einer Stunde verschwindet langsam dieses Gefühl, eine Magensonde durch die Nase empfangen zu haben. Dienstag, was für ein Dienstag! Wir packen noch etwas und verschieben den Rest auf morgen.