»Schulter« zu haben ist zwar nicht ganz so schmerzhaft wie »Rippchen«, aber es reicht, um einem den Schlaf zu rauben. Meinem Alter wird ja nachgesagt, dass man tot ist, wenn einem nichts mehr weh tut. Das beruhigt, lässt mich aber auch nicht einschlafen. So wache ich meinem 64ten Geburtstag entgegen und fühle mich nicht nur ein Jahr älter.
Der Versuch, am nächsten Morgen auf den Steg zu kommen, offenbart selbst dem dickköpfigsten Schiffsjungen, dass die Schulter tatsächlich nicht ganz hochseetauglich ist. Und die Malaise der rechten Hüfte rundet das Unmögliche nur noch ab, denn das Bein bleibt schmerzhaft am Relingsdraht hängen. Früher war mein Hüftschwung definitiv mal eleganter 🕺🏻. Hoffentlich hat keiner zugesehen 🤭.
Was ist das nur für ein Sch…! Und das nur wegen einer blöden Sekunde Unachtsamkeit. Ich könnte mich in den A… beißen, aber schon bei dem Gedanken tun das Hüftchen und die Schulter noch etwas mehr weh, so dass mein Hintern verschont bleibt. Hätte hätte Fahrradkette … was soll’s!?!
Doch wenn man ein Jahr älter wird, heißt das ja auch, dass man ein Jahr vernünftiger, wenn nicht sogar weiser geworden ist. Die Einsicht in »Geht-nicht« zählt ja nicht zu meinem größten Stärken, aber heute siegt dann doch die Vernunft, weil sie auch für den Unvernünftigsten nicht zu übersehen ist.
Zu der Capitana brauche ich gar nichts zu sagen, denn ihr war schon von vornherein klar, dass wir in Santa Maria in die Verlängerung gehen. Etwas kopfschüttelnd, aber sehr geduldig, hat sie verfolgt, wie auch bei mir diese Erkenntnis langsam heranreift.
Tage später …
Doch ganz langsam wird es besser. Und wenn der rechte Arm den linken hochhebt und dort ablegt, wo die linke Hand gebraucht wird, dann klappt das meistens auch schon ganz gut. Nur zu weit oben darf es eben nicht sein, das geht auch mit Unterstützung gar nicht. So vergehen zwei Tage mit Besserung und als am dritten Tag nachmittags die Sonne herauskommt, beschließen wir, noch einen kleinen, seniorengerechten Spaziergang auf die Klippen westlich von Vila do Porto zu machen.
Den richtigen Wanderweg verfehlen wir leider um 50m, aber das sehen wir erst auf dem Rückweg. So tappen wir auf der Suche nach dem rechten Pfad durch ein verlassenes Industriegebiet und durchqueren off-road-mäßig ein gutes Stück Brachland, um vor einer Mauer mit hässlichem Stacheldraht zu enden. Doch auch die Mauer und der Stacheldraht sind schon in die Jahre gekommen, es gibt auch hier Schwächen. Eigentlich ist dem Schiffsjungen nur begrenzt nach Abenteuer, doch hinter der Mauer lockt der richtige Wanderweg mit seiner rotweißen Markierung. Was sollen wir machen? Behände klettert die Capitana auf die Mauer und schwingt sich über den Stacheldraht. Ich fühle mich beobachtet und irgendwie gehemmt, denn die Capitana beäugt mich so misstrauisch, als ob ein Zeitzünder an mir tickt. Etwas weniger elegant schwinge auch ich mich auf die andere Seite und plumpse auf den GR 131. Für jeden, der nachlässigerweise unsere Blogs nicht ordentlich liest, der GR 131 ist der Wanderweg, der den gesamten Globus feinmaschig umspannt. Insider gehen davon aus, dass seine Gesamtlänge ungefähr das 83-fache des Erdumfangs beträgt, aber so genau weiß das keiner, denn weite Strecken sind noch unerforscht.
Der Wanderweg führt uns fast ebenerdig an der Steilküste entlang und auch über die fast unendlichen Weiden, auf denen die großen Kuhherden von Santa Maria grasen. Die Sonne kommt noch etwas mehr heraus und nachdem wir einen Blick von oben in die Marina geworfen haben, erreichen wir das kleine Leuchttürmchen Farolim da Ponta do Malmerendo, dass hoch oben auf den Klippen steht. »Farolim« heißt übrigens wirklich kleiner Leuchtturm oder Leuchttürmchen, denn mit »Farol« wird auf Portugiesisch nur ein ausgewachsener Leuchtturm bezeichnet.
Von dort geht es noch etwas weiter und dann auf verschlungen Wegen herunter zu einer kleinen Bucht, wo etwa 5 qm Sandstrand zu einem Bad zwischen den Felsen locken. Immer wieder unterbrechen einige Kühe ihre Milchproduktion und sehen uns mit ihren großen Augen an. Es sind diese braunen Kühe mit dem Haarpuschel zwischen den Hörnern und einem Augenaufschlag, der jedem Bullen das Blut zum Kochen bringt.
In der kleinen Bucht wimmelt es nur so von portugiesischen Galeeren. Also sammele ich mir einige hübsche Exemplare für ein kleines Photoshooting ein. Natürlich nicht mit der Hand, obwohl man sie ja schon an ihrem Kamm hochheben können soll. Aber wer weiß, wie sie sich in der Brandung dann doch selbst mit ihren hübschen, dunkelblauen Tentakeln eingeschmaddert haben. Und in solchen Momenten hat Plastikmüll auch mal sein Gutes, denn auf einem angeschwemmten Kistendeckel lassen sich auch portugiesische Galeeren ganz gut zu ihrem Phototermin transportieren. Dann bekommen sie noch eine kleine Wäsche mit Seewasser aus einer angeschwemmten Plastikflasche und schon kann es losgehen.
Für den Rückweg beschließt die Capitana, am Flughafen entlangzugehen, damit wir nicht wieder denselben Weg zurückgehen müssen. Doch zwischen uns und dem Flughafen liegen noch einige Weiden mit noch mehr Kühen. Verlaufen kann man sich nicht, denn nagelneue Wanderwegmarkierungen wurden von todesmutigen Fremdenverkehrsmitarbeitern in einem übersichtlichen Abstand in den Boden gerammt. Ganz unvermittelt schaut die ein oder andere Kuh um den ein oder anderen Hügel, um nach kurzer Pause vollkommen gelassen weiterzugrasen. Hinter einem flachen Hügel stehen gut 60 weitere Milchproduzenten.
Sicherheitshalber spricht der Schiffsjunge immer mal wieder beruhigend mit den Kühen, wohingegen die Capitana es vorzieht, einen größeren Bogen zu machen. Beruhigend sprechend gehen wir außen auf eine Mauer zu, denn Astrid ist sich sicher, dass wir dort den Wanderweg wiederfinden, der uns nun doch irgendwie abhanden gekommen ist. Eine der Kühe ist größer als die anderen und sieht andauernd neugierig zu uns herüber. Zwischen der Mauer und der Kuhchefin liegen noch gut 100m, da passen wir gerade noch so durch. Doch die Kuhchefin hat nur einen sehr kleinen Euter und um ehrlich zu sein auch einen Buckel, zu dem man wohl landläufig auch Stiernacken sagt. Sicherheitshalber verstummt der Schiffsjunge, man weiß ja nie, ob man nicht doch falsch verstanden wird.
Die Mauer ist nicht eben flach, ließe sich aber mit einer ausgefeilten Stabhochsprungtechnik noch problemlos überwinden. Also ignorieren wir den Bullen und gehen die Mauer entlang in Richtung einer Ecke. Hier sitzen wir zwar in der Falle, aber es scheint sich dort vielleicht doch ein Durchgang oder Fluchtweg zu eröffnen. Da Bullen aufgrund ihre Gewichts nicht leise rennen können, tappen wir mit gespitzten Ohren unserer Rettung entgegen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch hinter uns bleibt es ruhig. Als die Capitana beginnt, über die Mauer zu klettern, drehe ich mich vorsichtig um. Der Bulle steht immer noch an derselben Stelle und glotzt uns an. Irgendwie blöd, dass Astrid eine rote Jacke an hat. Doch dann sehe ich, wie ein hübsches Kuhfräulein dem Bullen mit ihren großen Augen und den langen Wimpern zuzwinkert. Der Bulle dreht langsam seinen Kopf. Astrid ist schon auf der anderen Seite der Mauer, lange Beine haben manchmal doch unbestreitbare Vorteile. Der Bulle scheint nun ganz offensichtlich andere Prioritäten zu haben. Gut so, mach nur, ist auch viel schöner, als harmlose Wanderer aufzuspießen! Nun versuche ich, die Mauer zu bezwingen, die Gelegenheit ist günstig. Doch auch ohne Phototasche komme ich einarmig einfach nicht auf die Mauer, um mich dann über den Stacheldraht zu schwingen. Der Bulle ist in seinem Element, das Kuhfräulein lässt ihn aber noch etwas zappeln. Zwischen mir und einem Gatter mit Übergang stehen drei weitere Kühe, die etwas eifersüchtig auf den Bullen gucken, sich dann aber wieder der Milchproduktion widmen. Munter plaudernd gehe ich ihnen entgegen, denn Kühe sind ja nicht so aufbrausend wie Bullen und sie mögen auch, wenn man mit ihnen redet und etwas Klatsch und Tratsch kommt immer gut an. Das Gatter erreiche ich, als der Bulle mit seiner Bullenpflicht fertig ist und seinen Kopf wieder zu uns dreht. Ich zeige ihm den Stinkefinger und bin froh, dass die Natur gesiegt hat.
Der Rückweg ist lang, aber ohne weitere Abenteuer. Doch die kleine Wanderung hätte sich auch nur für die Aussicht und den kleinen Badestrand schon durchaus gelohnt.
Vila do Porto, Santa Maria, Azoren
36° 56′ 40,2″ N, 025° 08′ 51,8″ W