Tag 7, Freitag, 20.01.2023
Jeden Morgen sammeln wir einige tote fliegende Fische an Deck ein, heute Morgen waren es sogar 8! Nicht alle sind wirklich groß und es gibt verschiedene Arten. Die eher bläulich schimmernden und ockerbraun melierten. Und … wir haben es genau gesehen … sie flattern doch! Erst dachten wir, dass es reine Gleitflieger sind, aber sie flattern definitiv und manche von ihnen kurven erstaunlich geschickt durch die Wellen. Ein faszinierendes Schauspiel, das immer nur wenige Augenblicke dauert. Ich hab es aufgegeben, im richtigen Augenblick mit der Kamera bereit zu sein.
Gleich in der Morgendämmerung haben wir den Parasailor wieder gesetzt. Der Wind hatte in der Nacht einen Schwächeanfall und von hinten kam zudem ein Brite auf. Die Aphrodite. Nur mit Groß waren wir ihm nicht gewachsen, aber nun vor Parasailor sind wir ebenbürtig und hoffen auf einen Hauch mehr, so dass wir ihn doch noch versägen können 🙂😎👍. So richtig viel ist ja hier draußen nicht los, da ist so ein kleines Rennen eine prima Abwechslung. Ich geh gleich mal gucken, wie das Rennen so läuft. … Hmm, Mist, er hat uns 0,334 Längenminuten abgenommen 😢. Und das auch noch, obwohl wir 5 sm weiter nördlich fahren 😤 und eigentlich den kürzeren Weg haben 😬.
‼️ Break! Und dann ist plötzlich Schluss mit dem Race und auch mit lustig. Bei einem der Routine-Checks sehen wir, dass sich das backbordseitige Unterwant am oberen Terminal im Mast auffasert und droht, ganz zu brechen. Mit dem Fernglas sehen wir den Alptraum eines jeden Seglers genau. Wenigstens drei oder vier Kardeelen spreizen sich schon unterhalb des Terminals und das Want beginnt aufzufasern. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es ganz bricht und runterkommt. Ob dann auch der Mast runterkommt, wissen wir nicht so genau, aber mit den entsprechenden Wellen und Wind ist das nicht ganz unwahrscheinlich. Die Lasten im Mast, die durch das Rollen entstehen, sind beträchtlich.
Noch 1.320 sm to go oder 765 sm zurück. Zurück wäre gegen den Wind, unser Diesel würde eh nicht reichen und gegenan können wir mit so einem geschwächten Rigg schon mal gar nicht segeln. Also bleibt nur weiter.
In jedem Fall müssen wir das Rigg stabilisieren. So, wie es ist, wird es niemals bis Martinique durchhalten. Und dann steht in irgendeiner Meldung: »Durch die Verkettung unglücklicher Umstände …«. Diese Verkettung unglücklicher Umstände müssen wir durchbrechen, wenn wir wohlbehalten in Martinique ankommen wollen. Hier draußen sind wir allein, niemand außer uns selbst kann uns helfen. Wir müssen segeln, der Diesel reicht nicht, egal, welche Himmelsrichtung wir einschlagen.
Wir diskutieren die Möglichkeiten. Klar ist sofort, dass wir die Backstagen zur Stabilisierung des Riggs nutzen. Nur wie anschlagen? Ihr normaler Anschlagpunkt im Mast sitzt gut einen Meter oberhalb der oberen Salinge, an denen die Unterwanten angreifen. Genau an diesen Unterwanten muss auch das Provisorium mit den Backstagen angreifen. Wir könnten sie einfach oberhalb der oberen Salinge mit einem Soft-Schäkel a la PINCOYA um den Mast fixieren. – Siehe das Bild dieses wichtigen Knotens, der noch nie in einer Segelzeitschrift war und auch nie in den Rang eines Segelknoten erhoben werden wird, der aber mehr kann als viele andere. –
Doch dann können wir das Groß nur noch im zweiten Reff fahren, weil wir es nur noch bis zum Provisorium setzen können. Vielleicht auch nur noch im dritten, so genau wissen wir das gerade nicht. Wenn wir das Provisorium um den Mast anschlagen, blockieren wir uns selbst die Mastschiene für das Groß. Doch die Capitana kommt auf die rettende Idee. Die backbordseitige Entlastung schlingen wir mit eben diesem Soft-Schäkel um die Steuerbordsaling und führen die Backstage als provisorische Verstärkung vorn um den Mast herum und die steuerbordseitige Entlastung umgekehrt. So bleibt die Nut für die Rutscher des Groß frei.
Doch das ist leichter gesagt als getan, denn dazu müssen wir in den Mast. Die Wellen haben im Mittel etwa 2,5 m und die großen Exemplare, die die PINCOYA kräftig rollen lassen, noch deutlich mehr. Ich habe keine Ahnung, ob das gut geht, aber eine Alternative haben wir nicht, denn hier draußen gibt es nur unsere Selbsthilfe und sonst gar nichts.
Doch zunächst muss der Parasailor runter. Darin sind wir ja geübt, aber in der Aufregung passiert uns auch hier ein Missgeschick und die Steuerbordschot und der Steuerbordniederholer verschwinden unter dem Bug in Richtung drehender Schraube. Geistesgegenwärtig macht die Capitana den Motor aus und legt schnell den Rückwärtsgang ein. Leerlauf allein hätte nicht gereicht, denn auch ohne Segel macht die PINCOYA noch ausreichend Fahrt, so dass sich die Schraube mitdreht. Deswegen Rückwärtsgang, dann faltet sich der Faltpropeller zusammen. Durchatmen! Noch mal gut gegangen! Wir müssen uns konzentrieren, auch wenn es schwerfällt, um den Teufelskreis der »Verkettung unglücklicher Umstände« zu durchbrechen! Uns dürfen keine weiteren Fehler passieren. Schon gar nicht im Mast, das würde tödlich enden.
Dann ist der Parasailor verstaut und alle Strippen sind gesichert und klar an Bord. Nichts hängt mehr raus, der Motor kann wieder ran. Zwischen unseren Ersatztampen finden wir noch einige Meter ummantelte Dyneema-Strippe. 6er, wenn die mit dem Soft-Schäkel nach PINCOYA-Art doppelt liegt, dann sollte das ausreichend stabil sein. Doch das alles muss nun auch noch wenigstens 14 Tage halten. Also brauchen wir einen Scheuerschutz. In den Resten vom Wassermachereinbau finden wir noch ausreichend lange Schlauchstücken und fädeln dort die Softschäkel durch. Soweit so gut, der Rest muss oben im Mast passieren.
Wenn ich so in den Mast schaue, ist mir echt etwas mulmig im Magen. Ja, ich habe Angst, auch wenn dafür momentan keine Zeit ist. Ein Fehler, ein Ausrutscher, ein Fehltritt, einmal nicht richtig und rechtzeitig festgehalten, dann war’s das. In den großen Wellen schwingt der Mast jetzt schon 4 bis 5 m und manchmal mehr hin und her. Mit mir als Topgewicht wird das nicht weniger werden.
Wir besprechen alles haarklein. Wenn ich oben bin, darf kein Zweifel aufkommen, was nun wie zu passieren hat. Ich muss mich blind darauf verlassen können, das Astrid mich sichert und in den richtigen Momenten etwas anwinscht oder runter lässt. Wir haben zwar Maststufen, die ich natürlich auch hochklettern werde, aber oben muss ich im Großfall hängen, um die Hände und Arme zum Basteln oder zum Festhalten freizuhaben. Wenn ich den Halt verliere und beginne zu schwingen, dann gibt es kein Halten mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dann stumpf irgendwie in die Takelage oder gegen den Mast krache, liegt bei 150%. Wenn es dann nicht der Kopf ist, habe ich Glück. Aber ein gebrochener Arm oder eine ausgekugelte Schulter wären auch schon die Alarmstufe rot.
Genau das ist auch der Grund, warum ich keine Lifeline mitnehme, um mich oben noch zusätzlich selbst zu sichern. Habe ich mich erst einmal so gesichert und bekomme dann einen gegen die Birne und bin bewußtlos, dann bekommt mich Astrid nicht mehr runter. Wenn ich ohne eigene Sicherung nur so hänge, kann sie auch einen bewusstlosen Martin wieder auf das Deck herunterlassen. Dass ist auch der Grund, warum wir keinen dieser Bootsmannsstüle haben, sondern ein ohnmachtssicheres Sicherungsgeschirr für Dachdecker und sonstige Kletterer.
Wenn ich das alles hier so aufschreibe, dann hört sich das an, als ob wir stundenlang nachdenken und diskutieren. Aber das alles dauert nur 15 Minuten, auch weil unsere Abläufe der Mastkletterei inzwischen total eingespielt sind. Nur diesmal machen wir das offshore und wir sind uns der Gefahren mehr als bewusst.
Die ersten Stufen zur ersten Saling gehen ganz gut, nur dann erwischt uns schon die erste Welle, die die PINCOYA ordentlich rollen lässt. Wohl ist mir nicht, ich umklammere mit ganzer Kraft den Mast, um den Halt nicht zu verlieren. Astrid muss mich in diesen Momenten etwas anwinschen, so dass ich mich nur noch auf das Festhalten konzentrieren kann und ganz fest im Gurt hänge.
Und für die Leute, die sich nun fragen, ob ich Angst hatte? Ja, ich hatte Angst. Eine Scheißangst und das nicht zu knapp. Ich hab nicht allzu oft Angst, aber diese Aktion war am Limit.
Doch sie ist alternativlos! Wenn wir in Martinique ankommen wollen, dann ist dies die einzige Möglichkeit, denn es gibt keine andere. Und wenn etwas wirklich alternativlos ist, dann kann man sich nicht auch noch um seine Angst kümmern. Die Angst ist nicht weg, aber es gibt dann eben gerade etwas anderes, das wichtiger ist. »Keine Zeit für Angst« wäre ein guter Titel.
Also weiter hoch und wie erwartet nehmen die Schwinger zu. Ich bin ja nun kein schwächlicher Bursche, aber ich kann mich wirklich kaum halten. Immer und immer wieder kommen die Wellen und lassen die PINCOYA entsetzlich rollen. Ich glaube die Frequenz ist doppelt so hoch wie sonst. Aber das ist bei der Anspannung schwer ehrlich zu sagen. Gefühlt ist es in jedem Fall so!
Zwischen den Schwingern durch das Rollen geht’s immer einige Stufen hoch, dann wieder festklammern. Erschwerend kommt hinzu, dass alles, aber auch wirklich alles, mit diesem scheiß Sahara-Staub bedeckt ist, der zusammen mit der Feuchtigkeit einen glitschigen Schmierfilm bildet.
Dann oben. Bei einigen Schwingern habe ich einfach die Augen geschlossen und gewartet, bis sich die ganze Sache wieder halbwegs beruhigt hat. Wenn man im Mast nicht über dem Deck hängt, sondern deutlich außenbords rechts und dann wieder links, dann macht das kein gutes Gefühl. Unten hat Astrid alles im Griff. Meine Lebensversicherung (!), auf die ich mich blind verlasse.
Erst die eine, dann die andere Backstage aushängen, den Soft-Schäkel samt Schlauchstück mit einer Hand vom Klettergurt abfummeln und immer wieder festklammern. Man beginnt zu schnaufen und sich selbst Mut zuzusprechen. »Komm schon, nur noch dieser eine Knoten.« oder »Oh du Depp, nicht da rum, hier lang! Konzentrier dich, das wird schon!« Dann ist es geschafft und die Backstagen sind um die Salinge befestigt. Astrid zieht unten an den Backstagen, um alles mal etwas zu straffen. Sieht gut aus!
Runter ist es ähnlich wie rauf, nur mit der Gewissheit, es geschafft zu haben. Leichtsinnigkeiten der Erleichterung sind verboten. Jetzt nur nicht noch einen Fehler machen. Unten kommen mir die Tränen, die Anspannung war einfach eine ganz große Nummer zu groß.
Dann wollen wir die Taljen der Backstagen spannen, aber die Backstagen laufen falsch herum um die unteren Salinge. Wie das passieren konnte, weiß ich auch im Nachhinein nicht, aber in einer Situation wie dort oben funktioniert die Birne auch nur noch mittelprächtig. Also noch einmal bis zur ersten Saling und die Backstagen umfädeln. Meine Arme und Schultern sind jetzt schon ganz schön mitgenommen. Mal sehen, wie die morgen aussehen. Die unteren Salinge sind breiter, ich muss mich strecken, das mit dem Halt ist schwierig. Immer wieder muss ich einige Schwinger abwarten, dann ist es geschafft und langsam geht es wieder runter. Nicht übermütig werden, nur weil es geschafft ist. Jeder Fehler wird teuer bezahlt.
Wir spannen die Backstagen zu den Püttingen der achterlichen Baby-Wanten ab. Das sieht schon mal gut aus. Im Cockpit durchatmen. Doch dann sehe ich einen weiteren Fehler, den ich ganz oben gemacht habe. Bei dem Geschlacker und Geschleuder habe ich nicht gesehen, dass ich unterhalb der Saling innen vom gegenüberliegenden Unterwant hätte durchgehen müssen. So ist der Druck teilweise auf dem Terminal des Unterwants. Also eben genau dort, wo sich auf der Backbordseite schon die Kardeelen herauslösen. Scheiße!!!
Das alles darf nicht wahr sein, ist es aber leider trotzdem. So sind die Chancen, dass unser Provisorium bis Martinique durchhält, deutlich geringer, als wenn ich es richtig angeschlagen hätte. Und wie schon gesagt, zu Martinique gibt es keine Alternative! Also muss ich ein drittes Mal hoch. Gut fühle ich mich dabei nicht. Astrid auch nicht! Die Schwinger sind schon auf halben Weg wieder erbarmungslos. Das hier ist echt maximal! Oben winscht mich Astrid so in Position, dass ich in den kurzen ruhigeren Phasen beide Hände frei habe. Zwei Knoten lösen, umfädeln und wieder verknoten. Hört sich nicht viel an, dauert aber.
Dann endlich runter. Habe ich noch einen Fehler gemacht oder an irgendetwas nicht gedacht? Astrid hält mich am Großfall im Gurt und lässt mich die letzten Meter runter. Wir beide sind unglaublich erleichtert, auch von Astrid fällt eine riesige Last ab. Bis hierher ist alles gut gegangen. So richtig selbstverständlich war das nicht. Wir spannen unser Provisorium und es sieht tatsächlich gut aus. Besser geht nicht, zumindest fällt uns nichts Besseres ein.
Und nun? Wir beschließen, nur noch mit dem Groß weiterzufahren. Wir meinen, dass damit die Belastung am Unterwand am geringsten ist. Die Wellen sind eine andere Nummer, da können wir wenig machen. In jedem Fall brauchen wir einiges Glück, dass es moderat und weitgehend ruhig bleibt. Aus unserer angepeilten Restfahrtzeit sind nun 14 Tage oder mehr geworden. Doch ab jetzt dreht es sich ausschließlich nur noch ums Ankommen und nicht mehr ums Wann.
Es geht nur langsam voran und dann auch so in die erste Nacht mit diesen Problemen. Bevor es dunkel wird, checken wir alles noch einmal gewissenhaft und machen mit dem Tele Photos von dem aufbrechenden Want. So können wir das morgen bei Tageslicht mit einem neuen Photo vergleichen und sehen, ob sich etwas verändert hat.
Und für den Fall der Fälle, bringen wir die Akku-Flex von Makita an den Start, damit wir uns ggf. schnell von dem Mast trennen können.
Und von nun an fährt die Angst mit, dass Schlimmeres passieren könnte.
Natürlich fragt man sich, ob es Anzeichen gegeben hat, die wir nicht richtig interpretiert haben. Da ist tatsächlich etwas, dass uns während unseres ersten Madeira-Aufenthalts 2021 aufgefallen ist. Wenn die PINCOYA wirklich stark rollt, auch vor Anker, dann knackt es im Mast. Anfänglich konnten wir das durch Nachspannen der Wanten beseitigen, aber es kam wieder. Nicht nur einmal haben wir die Wanten und speziell alle Toggle und Terminals untersucht, aber alles war immer ok und ohne jeden ersichtlichen Schaden. Nun knackt es gerade wieder, und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob das Knacken mit dem Bruch in irgendeinem Zusammenhang steht.
In der Nacht beschließen wir noch zwei Dinge. Solange es moderat bläst, segeln wir mit dem Groß auf Steuerbordbug. So wird zwar die beschädigte Seite belastet, aber eben nur moderat. Mit der Taktik kommen wir zwar etwas zu weit südlich, aber wenn es heftiger wehen sollte, halsen wir und gehen auf Backbordbug und haben so die noch intakte Seite belastet. Außerdem werden wir gleich morgen, wenn es wieder hell ist, den Spibaum auf Deck stauen. Der sitzt bei uns nämlich am Baum und wenn wir den Mast doch verlieren, wäre der Spibaum für ein Notrigg leider auch weg. Das wäre schon blöd.
Am Ende kommen wir gut durch die Nacht und jeder von uns hat sogar auch etwas geschlafen. Anfangs war die Anspannung noch zu groß, dann wurde aber die Müdigkeit größer.
Um 10:00 loggen wir unser siebtes Etmal mit 94,6 sm. Noch 1.254 sm to go. Jetzt sind wir genau eine Woche unterwegs. Unsere neue Ankunftszeit ist nun der 3. Februar, also noch 14 Tage auf See.
nun vor Le Marin auf Martinique
14° 27′ 38,2″ N, 060° 52′ 21,9″ W