Draußen weht es immer noch recht heftig. Unser Windmesser ist defekt, der Stecker hat wohl in den letzten Jahren zuviel Wasser geschluckt, deswegen können wir die Windstärke nur schätzen. Die Regenböen dürften aber satt über 30 Knoten liegen, der Rest reicht aus, um es ungemütlich zu machen. Immer wieder ziehen kräftige Regenschauer durch. Der Espresso blubbert und Lin bekommt einen heißen Kakao. Damit lässt es sich in den Kojen noch eine Weile aushalten. Uns drängelt ja keiner, wir wollen heute nur mal kurz rüber nach Fehmarn fahren, um den Kite-Kurs abzusagen. Das gehört sich ja schließlich so. Na ja, und heute ist Experten-Wetter, etwas gucken und einige Bilder machen wollen wir auch. Wenn wir es schon nicht selbst ausprobieren können, dann wollen wir wenigstens mal sehen, wie die Cracks das machen.
Nach dem Frühstück fahren wir los. Schon auf der Bundesstrasse in Richtung Fehmarnsundbrücke stockt der Verkehr. Zwei Wagen vor uns schlingert sich ein holländisches Wohnwagengespann den Damm hinauf und der Brücke entgegen. Direkt vor uns fährt ein riesiger, schwedischer Campingbus. Der Schwede selbst scheint gerade einen Dauerelchtest zu fahren. Da der Schwede und der Holländer sich asynchron nach vorne schwanken, kommt der Holländer immer mal wieder rechts und links in unser Blickfeld. Fahrbahn und Gegenfahrbahn haben schon lange ihre Bedeutung verloren, hier geht es nur noch um die Brücke und um das Rüberkommen.
Einige hundert Meter vorher hatten wir kurz einen freien Blick auf die weiße Brandung vor dem Müttergenesungswerk. Eine Handvoll Kiter, wahrscheinlich eher keine Ökos auf Mutter-Kind-Kur, schlitzten dort in atemberaubendem Tempo eine Welle nach der anderen auf. So etwas habe ich bisher nur bei Tim Melzer gesehen, als er mit seinem japanischen Filetiermesser innerhalb von 7 Minuten ein Carpaccio für eine 25-köpfige Hochzeitsgesellschaft schnitt.
In der Anfahrt der Fehmarnsundbrücke stockt der Verkehr immer wieder, um sich dann doch irgendwie über die Brücke zu schaukeln. Der Sund liegt unter uns. Unzählige weiße Wellenkrönchen tanzen unter der Brücke hindurch und rufen uns hämisch böse Sachen zu. Ja, wir kneifen und sagen den Kite-Kurs ab. Aber so geht es ja nun eben gar nicht.
Offensichtlich hat gerade eine Fähre in Puttgarden ihre Ladung ausgespuckt. Nun ist Gegenverkehr. Der Holländer versucht, die Spur zu halten. Ein wilder Mix aus belgischen, holländischen und deutschen Wohnwagengespannen schwankt sich uns entgegen. Eben noch dachten sie, der wilden See entkommen zu sein, aber nun packt sie die brutale Seitenwindrealität der Fehmarnsundbrücke. Unser Henry duckt sich mit seiner Mini-Größe geschickt unter den Böen hindurch, aber den Beifahrerinnen der Caravan-Gespanne steht nur ein Gedanke ins Gesicht geschrieben. „Warum haben wir für die Kleinen keine Schwimmwesten dabei, sie sind doch noch so jung!“ Und mit weit aufgerissenen Augen bucht der Gatte im Geiste gleich das nächste Fahrertraining beim ADAC Castrup-Rauxel noch im September.
Auf Fehmarn nehmen wir gleich die erste Abfahrt. Meine Windsurf-Zeiten liegen lange zurück, aber ich finde den Weg nach Gold. Erinnerungen ploppen hoch wie die Blasen in einem Geysir. Campingbusse, VW-Busse, Kombis, oft selbst bemalt, manchmal mit AirBrush, aber fast immer altersschwach, überfüllte Parkplätze, die örtliche Bäuerin kassiert Parkgebühren, Übernachten nicht erlaubt, eigenartige Typen schleppen Bretter und Segel in eine Richtung, Typen wie damals, nur heute mit Bauch, dazwischen junge Pärchen mit Rucksack und einer Art Snow-Board, verstreut einige Touristen aus der anderen Welt, die diese Welt bestaunen, um zuhause davon zu erzählen, dann der Deich, dahinter liegt das Gravitationszentrum der Bretter und Segel, hier beginnt’s, noch mehr komische Typen, eine echt andere Welt, ich dachte, die wäre alle ausgestorben, aber hier sind sie noch, so wie früher, so, als ob nichts passiert wäre, ein Surfbiotop, Lin schaut mich ungläubig an, ich sage, „Ja, so isses!“, es juckt in den Füßen und Händen, soll ich einfach mal einen fragen, vielleicht geht es ja noch, wir schlendern durch die Reihen der Windsurfer, mein Blick wird cooler, geändert hat sich eigentlich nicht viel, das sieht alles noch sehr vertraut aus. Etwas weiter hinten, dort wo die Pärchen mit den Rucksäcken und den Snow-Boards hingehen, dort sieht es etwas anders aus, aber die Typen sind gleich, etwas jünger vielleicht, aber genau derselbe Typ, wie damals beim Windsurfen, egal wo, hier auf Fehmarn, am Ringkøbing Fjord, am Ijsselmeer, auf Texel, St Peter oder Sylt. Cool! Und nun beginnt es noch etwas mehr in den Füßen und Händen zu jucken.
Wir schauen uns um. Hm… schon cool. Guter Wind. Mit ’nem Surfboard würd’s gehen. Sicher! Na ja, einigermaßen ziemlich sicher. Immerhin. Wer weiß? Aber joah… könnt’ gehen! Aber das mit dem Kite? Hm… sieht komplizierter aus. Aber… warum nicht? 😉
Wo ist denn diese Kite-Bude bei der ich angerufen habe? Wir fragen uns durch und stehen dann vor einem dieser völlig lockeren Typen. Der sagt: „Wie? Viel Wind? Wir schulen bis 25 Knoten, also ’ner lockeren 6.“ Ich frage, ob er 6 m/s meint, dass wäre immerhin noch eine flotte 4. Nee sagt er, 6 Beaufort. Ich spüre, wie er auf meinen Bauch guckt. „Hey man“, sagt er, „dann kommst du locker raus und hast etwas Wind in den Händen. Viel besser als dieser Frust mit 3 Windstärken.“ Er hat nicht „auch du“ gesagt, das rechne ich ihm hoch an! „Ja aber, vielleicht wäre es am Ende unseres Urlaubs viel besser, so mit Sonne und weniger Wind und so.“ „Hey man, morgen 4 ist voll ok, dann Mittwoch ne 5, vielleicht 6, das ist optimale Anfängerschulung.“ Astrids Augen leuchten, in Lins Augen traue ich mich gar nicht zu sehen. „Morgen ist optimal, man! Wann könnt ihr da sein, ist 9:15 ok?“ Ich höre Astrid sagen: „Ja, 9:15 ist voll ok, man!“ Mein Kopf schnellt in schleudertraumaverdächtiger Geschwindigkeit auf Astrids Seite, ich spüre schon dieses Ziehen im Nacken und denke unwillkürlich an Voltaren. Mehr als ein „Äh…“ kriege ich nicht mehr raus, bevor unsere Verabredung für morgen um 9:15 perfekt ist.
Danach sitzen wir noch einige Zeit auf dem Deich und sehen uns an, was wir morgen Abend ganz bestimmt noch nicht hinbekommen.
in Heiligenhafen / Ortmühle in unserer Heimatbox
54° 22′ 20,4″ N, 11° 00′ 15,7″ E