Heute ist es soweit. Der Wecker klingelt um 7:00. Bei Espresso und Kakao überlegen wir, was uns heute so erwarten könnte. Das Wetter ist nicht gerade sommerlich. Astrid und ich haben wenigstens eine Idee, wie das beim Windsurfen läuft. Lin tappt völlig im Dunkeln.
Vor entscheidenen Wettkämpfen nehmen Sportler ja immer nur ein leichtes Frühstück zu sich. So auch wir! Einige zärtliche Nutella-Brötchen müssen reichen, der Rest wird mit Käse belegt und eingepackt. Badesachen, Wechselsachen und Pullover und Jacken stopfen wir in eine große IKEA-Tasche. Warm ist es nicht, die Pullover und Jacken werden wir hinterher brauchen. Der Wind heult mäßig aus Südost. Pünktlich um 9:00 sind wir am Spot. Eigentlich sagt man ja Hotspot, aber von „hot“ hat dieser Spot heute so gar nichts.
Es tröpfelt immer mal wieder, aber am Nachmittag werden wir wissen, dass es unsere Vormittagsgruppe noch viel besser getroffen hat, als die Nachmittagsgruppe. Wir haben Wind ohne Regen, bei denen wird’s umgekehrt gewesen sein.
Nachdem sich alle versammelt haben – es sind doch nicht nur wir drei, sondern 10 Kandidaten – kommt die Materialausgabe. Ein Raunen geht erst bei der Ausgabe der Deppen-Helme durch die Gruppe. Fahrradhelme können ja schon bescheuert aussehen, aber diese Soft-Cap-Surf-Helme stellen einfach alles in den Schatten. Direkt aus dem Irrenhaus, dort wo sie die Irren noch in Gummizellen sperren. Wir sehen denen nun zum Verwechseln ähnlich. Das schweißt die Truppe zusammen, gemeinsam sind wir stark und können vielleicht verhindern, das Einzelne von der Gruppe getrennt werden, um sie dann gleich in eine Anstalt zu stecken.
Da der Wind aus Südost kommt und wir unsere Flugversuche bei auflandigem Wind in bauchtiefen Wasser machen sollen, fahren wir alle um die Orther Bucht herum bis hinter Lemkenhafen. Hier tummeln sich aber schon andere Kite-Schulen, deswegen latschen wir uns auf dem Deich die Füße platt, bis wir in der hintersten Ecke, schon kurz vor Orth, ein Plätzchen finden. Mit Windsurfausrüstung wäre eine solche Wanderhaft nicht möglich, da haben die Kites einen riesigen Vorteil. Das Brett ist klein und der Kite mit allem Zubehör ist leicht. Ebenso leicht ist der Aufbau, eigentlich ein Kinderspiel. Wenn der Bursche dann noch richtig herum auf dem Bauch liegt, dann fliegt er auch nicht gleich weg.
Von den 10 Anfängern haben 3 schon mal einen Kite geflogen, die kommen in die „Fortgeschrittenengruppe“, der Rest der Ahnungslosen wird in 3 Gruppen eingeteilt. Hier entscheidet die Gewichtsklasse und damit ist klar, dass ich nicht mit Astrid oder Lin in einer Gruppe bin. Kiten scheint auch keine wirkliche Männer-Domain zu sein. In unserer Gruppe haben die Damen mit 7:3 die Nase vorn und schaut man sich am Strand um, so sieht man viel mehr Kiterinnen als Windsurferrinnen.
Und irgendwie nimmt das Latschen heute kein Ende. Unsere Lehrer, immerhin 2 Profis und 3 Hilflehrer, starten die Kites und gehen los. Und wir trotten hinterher. Einen gefühlten Kilometer nach dem anderen stapfen wir durch’s Wasser zu einem imaginären Punkt am Horizont. Die Kite-Lehrer fahren unterdessen die Kites „warm“ und müssen sich nicht durch das hüfttiefe Wasser quälen. Da ich erst an nächsten Tag schmerzhaft erfahren darf, wie weit man in erstaunlich kurzer Zeit fliegen kann, finde ich diese Latscherei heute echt etwas übertrieben.
Dann geht es los. Ich bin zusammen mit Birk in einer Gruppe, wir haben einen 9 qm Kite und der Wind liegt irgendwo bei 4 bis 5 Beaufort. Unser Lehrer fliegt die ersten Kite-Manöver, wir schauen zu. Schön vorsichtig am äußeren Windrand etwas hin und her und den Kite auf 12h halten. Wir hängen uns abwechselnd ein. Die Schlaufe zum Einhängen heißt „Chickenloop“ und der Dödel zum Sichern heißt „Chickendick“. Warum? Weiß der Himmel, aber es hört sich schon mal echt insider-mäßig an. Nun können wir mitreden. Im Gegensatz zum Windsurfen ist man mit dem Kite fest verbunden, es gibt zwar eine Notfallauslösung, aber der Chickenloop kann sich nicht aus dem Trapezhaken aushaken, denn der dicke Chicken-Dödel sichert das Ganze. Wir sollen nur lenken. Also zärtlich links oder rechts an den Steuerleinen ziehen, aber unwillkürlich ziehen wir dabei auch immer die Bar nach unten. Ein alter Reflex aus Windsurfzeiten, aber wenn man an der Bar zieht, kommt Leben in den Kite. Ungewollt viel Leben. Dem Kite gefällt das gut. Unsere vermeintlichen Ausgleichsbewegung beschleunigt nur das unausweichlich desaströse Ende unserer ersten Versuche. Birk hängt hinten an meinen Trapez, zusammen sind wir nicht eben ein Leichtgewicht, das beeindruckt den Kite aber nur wenig und gemeinsam katapultiert es uns aus dem Wasser. Unwillkürlich halte ich mich immer mehr an der Bar fest, dadurch wird das Ganze nicht besser. Zielsicher steuert der Kite die Powerzone an, wir beide hinterher, unser Weg ist wahrlich „alternativlos“, noch nie war dieses Wort so wahr, wie in diesem Moment, im Kopf sind keine Gedanken mehr, nur der Instinkt sich festzuklammern, aus grauen Evolutionszeiten, so wie vor Jahrmillionen als Äffchen in den Wipfel des Regenwaldes, da war dies überlebenswichtig. So werden wir aber einfach fortgerissen, dann kracht der Kite selbst in Wasser. Ein erlösender Moment der Ruhe, der nur eine zehntel Sekunde dauert. Ein Moment der Ruhe, der abrupt endet, als klar wird, dass sich der Kite damit noch lange nicht zufrieden gibt, er zerrt auf dem Wasser liegend immer noch an uns herum, als ob wir ihm etwas getan hätten. Von hinten dringen ganz langsam die Worte des Lehrers vom Ohr ins Gehirn vor; „Arme lang, Arme lang, Armäääähä lahahaaaang!“ Diese zwei Worte werden uns durch die nächsten zwei Tage begleiten und wir werden sie unzählige Male hinter uns hören und immer wieder wird es gefühlte Minuten dauern, bis das Gehirn den Befehl an die Arme durchgereicht hat.
Das Starten des Kite aus dem Wasser geht die ersten Male so gut, dass ich mich insgeheim schon mal spontan zu den Profi rechne. Wäre doch gelacht, wenn der Kite und ich nicht Freunde werden. Ungleiche Freunde, denn dem werde ich seine Zicken schon noch austreiben! Zunächst bleibt er allerdings bockig und gewinnt alle Zweikämpfe. Links und rechts schleppt der Kerl mich durch’s Wasser, aber ich lasse nicht los. Nun erst recht nicht, wäre doch gelacht. Dabei schlucke ich so viel Ostsee, dass wir hier bestimmt bald ein Jahrhundertniedrigwasser haben werden.
Nach einem unbeabsichtigten und nicht enden wollenden Dauerwaschgang in Rückenlagen, mehr unter, als über Wasser, knallt unser Kite so auf’s Wasser, dass ihm die Luft ausgeht. Später stellt sich raus, dass er nicht kaputt ist, sondern nur ein Verbindungsschlauch zu den Struts herrausgeruscht ist. Aber nun muss erst einmal ein Ersatz-Kite her. Bei der ganzen Latscherei hierher, eine langwierige Angelegenheit mit viel Wartezeit für uns. Schade, gerade haben wir richtig Blut geleckt. Dafür machen wir aber mittags dann fast eine Stunde länger und es klappt immer besser. So langsam bekommt man ein Gefühl für den Kite, nur das „Armääääh lahaaaaang“ bleibt uns erhalten.
Während unserer Wartezeit kann ich Astrids und Celines Gruppe beobachten. Die Damen-Crews haben sich zu einer doppelten Trapezanhängesicherung entschieden, was aber nur dazu führt, das immer alle drei unkontrolliert aus dem Wasser schießen, um kurz darauf synchron in der Ostsee zu verschwinden. Dem synchronen Schlepp-Kiten fehlt allerdings noch etwas die Eleganz.
Ich finde das Fliegen eines Kites ist alles in allem einfacher und auch nicht so anstrengend, wie die ersten Anfänge beim Windsurfen. Windsurfen ist dagegen viel Kräfte zehrender, weil man ewig am Segel ziehen muss und auch viel Kraft und Übung braucht, um dann noch das Trapez einzuhängen.
Und wie ist es Celine und Astrid ergangen? Eigentlich ganz ähnlich. Beide hatten einen 7 qm Kite und wenigstens Astrid hat ähnlich viel Ostseewasser geschluckt, wie ich. Lin hat es irgendwie geschafft ihren Kopf wie einen Korken über Wasser zu halten. Keiner weiß wie.
Spass hat’s uns allen gemacht und morgen geht’s weiter, da wird der dann Kite seine Meisterin und seinen Meister finden.
in Heiligenhafen / Ortmühle in unserer Heimatbox
54° 22′ 20,4″ N, 11° 00′ 15,7″ E