Montag 23.04.
Montagvormittag ist das Wetter leider etwas betrübt und regnerisch. Gestern haben wir ja wenigstens Danzig noch im Sonnenschein gesehen, heute sieht das leider gar nicht danach aus.
Die Hafenmeisteradjutantin, sie wird gerade von Chef-Hafenmeister für die junge Saison angelernt, ist aber euphorisch and says: „Even in pouring rain Gdansk is gorgeous, take a cardigan, sit down in a café, have a latté and watch the rain outside. It’s absolute fantastic!“
Heute am Montag ist es einfacher mit dem Hafenmeister. Der Hafenmeister und seine neue Hafenmeisteradjutantin sprechen fließend Englisch. Der Deputy-Hafenmeister gestern war wohl definitiv nur die Sonntagsaushilfshafenmeisterersatzbesetzung. So sprechen wir heute nach einem gekonnten „Djen dobry“ ziemlich gutes English. What a Erleichterung. Wenn es so gar nicht mit der Landessprache klappen will, dann sind ein paar englische Worte schon ein echter Segen.
So verschieben wir unser Danzig-Sightseeing auf später und beschließen erst einmal, in das Solidarnosc-Zentrum auf dem Gelände der ehemaligen Lenin Werft zu gehen. Die Ereignisse von 1980 sind mir selbst noch gut in Erinnerung. Ich war damals bei der Bundeswehr und auf das ungläubige Staunen über das Abkommen zwischen der Gewerkschaft Solidarnosc und den Vertretern der Regierung, sprich zwischen Lech Walesa und Mieczyslaw Jagielski, folgte mit dem Putsch durch das polnische Militär unter Führung von Jaruzelski die Ernüchterung und auch die Angst.
So gehen wir irgendwie berührt durch das Tor 2 der ehemaligen Lenin-Werft, vor dem auch das riesige Denkmal für die Todesopfer des ersten Streiks 1970 steht. Ein Ort mit einer unglaublichen geschichtlichen Verdichtung. Hier standen hinter dem Tor die streikenden Werftarbeiter, die nicht wußten, ob sie schon morgen von dem Regime zusammengeschossen werden, wie es schon am 17. Juni 1953 in Deutschland und 1956 beim Ungarischen Aufstand und 1968 zum Prager Frühling und eben 1970 schon einmal genau an dieser Stelle geschehen war. Die Familien der Streikenden brachten Lebensmittel an das Tor und verabschiedeten sich, ohne zu wissen, ob man sich morgen wieder sieht. Das Tor 2 ist nahezu unverändert, nur heute steht dahinter das europäische Solidarnosc-Zentrum. Die Lenin-Werft existiert nicht mehr und das riesige Gelände, auf dem 1980 fast 17.000 Menschen gearbeitet haben, wurde aufgeteilt und nur ein kleiner Teil gehört heute noch zur Danziger Werft, als Nachfolgerin der Lenin-Werft.
Das europäische Solidarnosc-Zentrum ist einzigartig. Wir haben noch nie eine so wunderbar gestaltete Einrichtung und Ausstellung gesehen. Dies beginnt bei dem Gebäude selbst, geht über die Gestaltung und mediale Führung der Ausstellung und findet ihren Schwerpunkt in seiner Aussage. Sicherlich ist der Schwerpunkt dieser Aussagen für jeden Besucher etwas anders, aber im Kern steht die Botschaft, dass sich die Welt auch friedlich zu einem Besseren verändern läßt. Dieser Dreiklang von Gebäude, Präsentation und Inhalt ist einzigartig und sehr beeindruckend.
Man verläßt das Solidarnosc-Zentrum mit dem Gedanken, dass eine solche Ausstellung eigentlich eine Pflichtveranstaltung für all die Wirrköpfe, ewig Gestrigen, Engstirnigen und Populisten unserer Zeit sein sollte. Doch genau das würde dem eigentlichen Sinn eines solchen Zentrums widersprechen und ohnehin auf fruchtlosen Boden fallen. Denn wo im Kopf kein Platz für eigenständiges Denken und Reflexion ist, passt auch nichts anderes mehr rein als Engstirnigkeit und Populismus.
Neben den Ereignissen um die Gründung der Solidarnosc im Kontext der Sowjet-Herrschaft und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wird noch ein weiterer Punkt klar. Veränderung hängt immer an nur wenigen Personen und an einer Zeit, die dafür einen günstigen Moment bereit hält. Diese wenigen Personen bewegen die Massen und alles kristallisiert sich an ihnen. Leider gilt dies im Positiven, wie auch im Negativen gleichermaßen, also für Menschen, die sich und andere aus einem Zwangsregime befreien möchten, wie aber auch für Führer und Volksverhetzer, die ihrem Wahn folgen. Despoten und Diktatoren machen diese Schritte aber bewußt und kalkuliert im Irrsinn ihrer vermeintlichen Ideologie. Ob Menschen, die am Ende große positive Veränderungen bewirken, diesen Schritt in seiner ganzen Konsequenz wirklich bewußt tun, glaube ich nicht. Sie sind plötzlich die Hoffnungsträger und alles andere tritt zurück. Ich denke, irgendwann werden sie von den Ereignissen und der eigenen Rolle überholt. Dann kommt es darauf an, ob sie dies annehmen oder nicht. Alles Private und auch die Angst um das eigene Leben, tritt in den Hintergrund. Insbesondere wie auch bei dem Priester Jerzy Popieluszko, der vom polnischen Geheimdienst ermordet wurde.
Das ist faszinierend und unwillkürlich fragt man sich, wie man selbst reagieren würde, wenn eine solche Situation vor einem steht. Man weiß es nicht. Nachdenklich gehen wir zurück.
Heute ist irgendwie nicht mehr der Tag für ein weiteres Danzig-Sightseeing und dem Wetter ist ohnehin auch nicht danach.
24.04.
Es ist immer noch nicht wirklich sommerlich, aber wir machen noch einen letzten Stadtrundgang. Dann soll es nachher weitergehen.
Als Hightlight erklimmen wir die 400 Stufen der St. Marien Basilika. Wir sind echte Schreibtischweicheier geworden. ziemlich aus der Puste kommen wir oben an und haben die kleine Aussichtsplattform tatsächlich fast für uns allein, bis eine Schulklasse eintrifft. Von dem Turm aus hat man einen grandiosen Überblick über Danzig.
Wieder unten angekommen streifen wir durch die Strassen und Gassen und lassen die tolle Altstadt auf uns wirken. Hier in Danzig merken wir es ganz besonders. Polen ist im Aufbruch und an allen Ecken und Enden brummt es. Es riecht fast nach Goldgräberstimmung. Ganz anders als das, was wir vor zwei Jahren in Estland gesehen haben. Wir sind gespannt, wie das nun in den Baltischen Staaten ist. Gleich morgen werden wir das sehen.
in Danzig
54° 21′ 0,6″ N, 18° 39′ 34,3″ E