Die Flucht von Terschelling


„Das LICHT!“

„Das LICHT!“

Der Wecker hat noch nicht geklingelt, da ruft die Capitana: “Wow, was ist das denn? Wo kommt denn dieses Licht her?” Und in diesem magischen Moment spielt es auch keine Rolle mehr, dass unser Wecker seit 14 Tagen eigentlich nur noch zu kruden Hochwasserzeiten klingelt und schon mal gar nicht, wenn wir sowieso nicht auslaufen wollen. Die Capitana springt auf und ruft: “Wie nennt sich dieses Licht? Nein – ja doch – wow – die Sonne! Der Hammer! Sonne! Schnell, lass uns rausgehen!” So oder so ähnlich klingt es jedes Jahr in Tromsø, wenn im Frühjahr die Sonne wieder das erste Mal über den Horizont guckt. Wir aber sind auf Terschelling, es ist kurz vor Midsommer und wir sind auf einem Sommertörn. Klingt verrückt, soll aber einer sein, denn beim Blick in den Kalender bleibt einem nichts anderes übrig, als das für eine Tatsache zu halten. Der Kalender und unsere Koordinaten sprechen eine eindeutige Sprache, es muss sich definitiv um einen Sommertörn handeln. Aber es gibt Tatsachen, die sich mit nichts aus der Realität untermauern lassen. Steppjacken, Faserpelze, Handschuhe und vor allem regenfeste Segelkombis gehören zu unserem Alltag, wobei die Sommersachen in den feuchtkalten Schapps Stockflecken bekommen. Und nun dies! SONNE!

„Wir haben ja schon so einen Transportschoben, aber es sind noch Steigerungen möglich!“

„Wir haben ja schon so einen Transportschoben, aber es sind noch Steigerungen möglich!“

„Die Tidenwippe von Terschelling.“

„Die Tidenwippe von Terschelling.“

„Wir hatten Glück, alle Kinder schliefen noch, so gehörte die Wippe uns und der Schiffsjunge war glücklich.“

„Wir hatten Glück, alle Kinder schliefen noch, so gehörte die Wippe uns und der Schiffsjunge war glücklich.“

„Terschelling und die Frühsportler.“

„Terschelling und die Frühsportler.“

Schnell machen wir uns fertig. Teile von Terschelling im Trockenen und sogar im Sonnenschein zu sehen, ist verlockender als ein Frühstück. Auf dem Gelände der Straßenmeisterei zur See können wir einige tolle Photos machen. Dort ist geöffnet, denn dort geht etwas vor, was überhaupt nichts mit Tonnen, Seezeichen oder sonstigen Aktivitäten eines See- und Schifffahrtsamtes zu tun hat. Langsam gehen wir weiter.

„Der Werkhof der Strassenmeisterei zur See.“

„Der Werkhof der Strassenmeisterei zur See.“

„Auf dem Weg zum Hafen“

„Auf dem Weg zum Hafen“

Am Fährhafen sind wir die ersten Kunden an einer Fischbude und kaufen uns ein Krabbenbrötchen zum Frühstück. Das Café für den Kaffee hat noch geschlossen. Wir sind uns nicht ganz sicher, ob hier die Saison noch nicht richtig begonnen hat oder wir einfach zu früh sind. Dabei scheint ja schließlich die Sonne, es muss Hochsaison sein! Wenigsten für 5 Stunden, denn dann soll schon der nächste Tiefausläufer mit Starkwind und Regen wieder über uns und Terschelling herfallen.

„Frühstück!“

„Frühstück!“

„Unendliche Wattenmeerweiten liegen vor uns.“

„Unendliche Wattenmeerweiten liegen vor uns.“

Und wir haben noch mehr Glück! Noch bis etwa 11:00 ist ablaufendes Wasser. Riesige, trocken gefallene Sandflächen erstrecken sich am südwestlichen Ende von Terschelling bis nah an das Fahrwasser, in dem wir vorgestern gekommen sind und ziehen sich dann über Westen nach Norden rund um die Insel. Das schreit förmlich nach einer Wattwanderung und so marschieren wir los. Es ist wirklich weitläufig und bald sind wir fast die Einzigen, die hier noch laufen. Nur viel weiter außen, hinter der Vogeldüne, die bei Hochwasser umspült wird, läuft noch ein Pärchen. Die sind aber deutlich vor uns aufgebrochen und schon um einiges weiter, deswegen nehmen wir den Innenweg. Es ist wunderbar! Endlich mal nichts als Natur. Nach zwei Stunden treffen wir auf einen Vogelbeobachtungsposten, der sogar besetzt ist, um auf die Brutgebiete aufzupassen und die wenigen Touristen auch mit Erklärungen und Infomaterial zu versorgen.

„Ein verspätetes Hochzeitstagsphoto und ein Panorama mussten wir natürlich auch gleich mal aufnehmen. So viel Nichts schreit förmlich nach Details!“

„Ein verspätetes Hochzeitstagsphoto und ein Panorama mussten wir natürlich auch gleich mal aufnehmen. So viel Nichts schreit förmlich nach Details!“

Gefühlt sind wir schon ewig gelaufen, aber auf der Karte der Vogelwarte sehen wir, dass wir gerade mal ein Drittel unserer angepeilten Strecken hinter uns haben. Dieselbe ernüchternde Erkenntnis hatten wohl auch zwei holländische Pärchen, die kurz vor uns hier angekommen sind und nun nach rechts in die Dünen abbiegen. Ein Blick auf die Maps-Karte offenbart, dass das wohl nicht die allerschlechteste Idee aller schlechten Ideen ist, wenn wir noch vor dem Regen wieder auf der PINCOYA sein wollen.
Also laufen wir den sich inzwischen am Dünenhorizont verlierenden bunten Pünktchen hinterher. Es ist wirklich einmalig toll, nur Natur und sonst nichts. Aber wir sind schlauer als die vier »bunten Pünktchen«, die sich langsam zwischen den Dünen verlieren. Altes Trapperblut muss wohl doch in den Adern des Schiffsjungen schwappen. Schnell sind der Turm von Terschelling, leichte Fußabdrücke einer etwa 30-jährigen Joggerin, die Reifenspuren eines Mountainbikes, die Holländer fahren eben überall Fahhrad, und die Hufabdrucke eines Haflingers, der eine etwa 80 kg schwere Person getragen haben muss, das Geschlecht dieser Person, nicht des Haflingers, konnte allerdings nicht aus den Hufabdrücken bestimmt werden, in Deckung gebracht. Unsere Route ist klar. Wir werden Stunden vor den »bunten Pünktchen«, die inzwischen weit links zwischen den Dünen verschwunden sind, in Terschelling sein. Denn wir biegen gleich rechts ab, vor der Wasserfläche, in der sich nun schon die Wolken spiegeln und nicht mehr die Sonne glitzert. Wie schlau ist es doch, wenn man die Zeichen der Natur lesen kann.

„Unten rechts der Weg der uns … aber lest selbst“

„Unten rechts der Weg der uns … aber lest selbst“

Auch wir verschwinden nun im Hinterland, allerdings wird es zunehmend feuchter. Nach etwa eineinhalb Kilometern entdecken wir einen schmalen Wasserlauf links neben uns, der uns immer weiter nach Südwesten abdrängt und zwischen uns und dem Turm von Terschelling-City liegt. Unser Pfad bleibt ebenso schmal wie modderig feucht, doch gerade im feuchten Matschpfützenuntergrund sind immer noch die Fußabdrücke der Joggerin, des Haflingers und des Mountainbikers deutlich zu erkennen. Aber auch dieses wegweisende Dreigestirn wird durch den Wasserlauf brutal nach Westen gezwungen, wobei der Turm von Terschelling, auf den wir noch vor Kurzem so schön zugegangen sind, nun leider schon fast links hinten liegt. Mist! Irgenwie dumm gelaufen. Ein Blick auf die Maps-Karte läßt beim näheren Reinzoomen die dunkle Teerstrasse zu eben diesem Wasserlauf werden. Noch mal Mist! Wir werden weit im Westen von Terschelling-City rauskommen, genau hinter der Düne des Vogelmannes. Hoffentlich finden wir da vorne eine Furt, irgendwo am Strand, dort wo das Wasser jetzt schon wieder aufläuft und der Vogelmann auf dem Weg in seinen Feierabend gerade mit seinem Strandbuggy durch das noch flache Wasser gefahren ist.
Die Capitana wird unruhig und selbst der Schiffsjunge beschleunigt seine Schritte. Dann ist Ende! Vor uns, links und rechts Wasserläufe. Große und kleine. Hinter uns unser Matschepfad. 500m weiter links ein Touristenpärchen auf dem Trockenen, das umdreht. Dazwischen Wasser und Salzwiesen. Oben in den Wolken auch Wasser, dass aber wenigstens noch nicht runterfällt. Der Schiffsjunge fühlt sich berufen, etwas Heldenhaftes zu tun, denn schließlich gilt es, seine Capitana zu retten. Es soll ja schließlich nicht bei dem neunten Hochzeitstag von gestern bleiben. Also Schuhe und Hose aus, ein echter Trapper findet immer eine Furt an der Biegung des Flusses. Zumindest war das bei Karl May immer so. Das Wasser ist recht knietief. Zielsicher suche ich mir die flachste Stelle und mache eine Probedurchwatung, um dann zu sehen, dass es 5 Meter weiter nur knöcheltief ist. Phantastisch! Schnell sind alle Photosachen über die Furt getragen und dann, nach kurzem Zögern, nehme ich die Capitana christopherus-mäßig auf die Schultern, ok, den Rücken, und trage sie auf die sichere Seite von Terschelling. So viel Trapperehre muss sein.

Terschelling -> Makkum Start: 14:20 Ende: 20:40 Wind: NE 17 kn + SW 15 kn (digital) Distanz: 32,4 sm Gesamtdistanz: 229,5 sm

„Flucht von Terschelling -> nach Makkum“

„Flucht von Terschelling -> nach Makkum“

Weitere eineinhalb Stunden später sind wir zurück auf der PINCOYA. Wir sind echt fertig und ich habe das Gefühl, dass uns morgen ein furchtbarer Muskelkater heimsuchen wird. Unterdessen füllt sich der Hafen. Wir haben zwar noch keinen Nachbarlieger, aber überall bilden sich Päckchen. Für eine Päckchenbildung liegen wir ziemlich blöd, ganz innen und in Luv für die nächsten Tage. Das nette holländische Pärchen neben uns, auf der anderen Seite des Stegs, fragt nach, ob wir auch schon so ein »Band« haben. Wir wechseln vom Holldeutländischen ins Englische, denn jetzt will ich es doch genau wissen. Nun ja, eben so ein Bändchen für den Eintritt, wo man dann überall mit reinkommt, ist ja auch preiswerter als einzeln und so ungemein praktisch, kann man im Internet bezahlen und “dort” abholen. Ihr Finger weist grob in die Richtung von Terschelling-City.
Ach was, mir bleibt der Mund offen stehen. Das gibt der Dame vom Nachbarschiff Gelegenheit nachzusetzen. Wir seien doch sicher auch für das Festival hier, der Hafen wird ja auch schon immer voller und morgen würden sicher auch die letzten Päckchenplätze in der Mitte besetzt sein. Nun schmerzen nicht mehr nur meine Füße und Beine, sondern auch mein Kopf vom Nachdenken. So langsam setzen sich die Puzzle-Teile meiner Erinnerung der letzen 36 Stunden ganz allein zu einem Bild zusammen. Unser Nachbar vorn betont, dass es sich um ein Festival für ältere Leute handelt, mit Kultur und so, nicht so laut wie bei den Jungen, es würde auf der ganzen Insel »Kultur« geboten, einfach irre toll, zwei Wochenenden und auch die ganze Woche dazwischen, und als Highlight kommt Udo. Nicht der Jürgens, der ist ja schon tot, sondern der Lindenberg Udo.

„Nun ist auch klar, warum die Terschellinger sogar ihren Turm frisch poliert haben!“

„Nun ist auch klar, warum die Terschellinger sogar ihren Turm frisch poliert haben!“

Das Geschehen auf dem Werkhof des See- und Schifffahrtsamtes, die Bühne hinter uns an Land, der rote Zeltdom am Strand und auch alle anderen merkwürdigen Aktivitäten fügen sich in meinem Kopf zu einem großen Festivalbild zusammen. Und vor meinem geistigen Auge füllt sich der Hafen, bis kein Schiff mehr reingeht, mit total ruhigen älteren Festivalbesuchern, die alle volltrunken über die PINCOYA klettern, weil wir Innenlieger sind.

Mit einem langgezogenen »äähhh« lasse ich die Dame stehen, gehe unter Deck und erzähle all das, was in den letzten beiden Absätzen steht, der Capitana. Und die sagt nur: “Ach du Scheiße!” Im Handumdrehen sind die Wanderschmerzen verschwunden und wir uns einig, dass wir fliehen müssen. Während wir die letzten Auslaufvorbereitungen treffen, die Tide checken, die Gott sei Dank für eine Flucht nach Makkum nicht besser passen könnte, kommen schon die nächsten vollkommen ruhigen, älteren Festivalbesucher rein. Der umliegenden, festival-launigen und nun ungläubig schauenden Seglergemeinde rufen wir zu: “Äh, yes sorry, we aren’t right now so much into festival!” Und zur großen Freude der Neuankömmlinge können wir denen unseren Stegplatz anbieten, denn unser Motor läuft schon, als die ersten Regentropfen fallen.

„Der Ableger war noch halbwegs trocken… unten Harlingen.“

„Der Ableger war noch halbwegs trocken… unten Harlingen.“

„Lichtblicke...“

„Lichtblicke…“

Und dann sind wir auch schon raus und es beginnt zu regnen und zu schütten, wie es seit Tagen nicht mehr geschüttet hat, was ungewöhnlich genug ist. Terschelling verschwindet schnell im Regen hinter uns, denn wir können segeln. Dicke 5 Beaufort lassen uns erst gut gegen das auflaufende Wasser vorankommen, aber dann geht es Strom-mit in Richtung Harlingen. Unglaubliche Wassermassen ergießen sich über uns. Im Fahrwasser nach Harlingen wird der Wind dann immer schwächer und die Richtung für uns immer knirschiger.

„Auf dem Weg zur Lorentz-Schleuse.“

„Auf dem Weg zur Lorentz-Schleuse.“

Da hilft auch Strom mit nicht mehr. Das Tief zieht mit seinem Kern genau über uns rüber. Die restlichen 2 sm bis zur Einfahrt Harlingen, wo wir abbiegen müssen, fahren wir dann unter Motor. Direkt vor Harlingen ist Stillwasser und wir können noch eine Seemeile unter Segeln in Richtung Lorentz Schleuse zum IJsselmeer fahren. Dann dreht der Wind innerhalb von Minuten auf Südwest, der Kern des Tiefs ist durch und liegt nun nördlich von uns. Mit dem Durchgang hört es auch auf zu regnen und wir brummen die letzten Meilen gegen den Wind zur Schleuse.

„In der großen Kammer.“

„In der großen Kammer.“

Alles just in time, nur der Wind hätte noch eine Stunde länger aus Nordost wehen dürfen. Die Schleuse rufen wir kurz vorher an und der nette Schleusenwärter macht auch »just in time« für uns auf. Und schon sind wir im IJsselmeer und lassen die Gezeiten erst einmal hinter uns. Pünktlich für die Einfahrt nach Makkum beginnt es dann wieder mit 20 Knoten zu blasen, um uns den Anleger richtig zu vermasseln. Schön ist das nicht und ich ärgere mich maßlos über alles und mich. Um kurz vor neun sind wir dann fest und richtig kaputt. Was für ein Tag!

„Unendliche Weiten des IJsselmeers warten auf uns, aber nun liegen wir erst mal gut und fest ganz ohne Festival.“

„Unendliche Weiten des IJsselmeers warten auf uns, aber nun liegen wir erst mal gut und fest ganz ohne Festival.“

in Makkum
53° 03′ 22,1″ N, 05° 23′ 54,7″ E